Berlin Brandenburg Interview zur Reform von Paragraf 218: "Die Botschaft ist jetzt: Was du tust, ist eigentlich verboten"
Eine Gruppe von Bundestagsabgeordneten will Schwangerschaftsabbrüche bis zur zwölften Woche legalisieren und die Beratungspflicht erhalten. Im Interview erklärt eine Pro-Familia-Beraterin, was sich ihrer Ansicht nach für ungewollt Schwangere ändern würde.
Aktuell wird im Bundestag hitzig über eine Reform des Paragrafen 218 debattiert. SPD, Grüne und Linke fordern mehrheitlich eine Reform, die Abtreibungen in den ersten zwölf Wochen legalisieren würde. Union und AfD lehnen eine Reform ab, die FDP mahnt zur Vorsicht und warnt vor einer übereilten Debatte.
Eine von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission hatte sich bereits für eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts ausgesprochen.
Der neue fraktionsübergreifende Gesetzentwurf sieht vor, dass Abtreibungen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche grundsätzlich nicht mehr strafbar sind. Die Beratungspflicht soll bestehen bleiben, aber die derzeit verpflichtende dreitägige Wartezeit zwischen Beratung und Abtreibung soll gestrichen werden. Zudem ist geplant, dass die Kosten für Abtreibungen vollständig von den Krankenkassen übernommen werden. Ob der Gesetzentwurf beschlossen wird, ist noch offen. Jutta Pliefke von Pro Familia in Berlin sieht vor dem Hintergrund ihrer Beratungsarbeit Handlungsbedarf.
rbb: Frau Pliefke, Sie kennen die Situation zahlreicher schwangerer Klientinnen aus der Beratung bei Pro Familia. Was würde die Reform des Paragrafen konkret ändern?
Eine ganze Menge. Im Moment muss eine Person, die ungeplant schwanger ist, eine regelrechte Odyssee auf sich nehmen: mit vielen Terminen, die sie vereinbaren muss, Adressen, die sie sich suchen muss, Fristen, die sie einhalten muss, Scheinen und Bescheinigungen, die sie besorgen muss. Das ist einfach so zeitaufwändig und belastend, dass viele Personen es gar nicht schaffen, sich mit ihrer Situation auseinanderzusetzen. Das würde sich ändern. Davon abgesehen gibt es eine große Verunsicherung, weil sich viele Schwangere kriminalisiert fühlen.
Durch eine Reform könnte sich aber auch die Situation für die Ärztinnen und Ärzte verbessern, die überlegen, Schwangerschaftsabbrüche anzubieten. Für die ist es im Moment eine sehr komplizierte Situation: In jedem Bundesland gibt es andere Regelungen, welche Papiere nötig sind und welche Qualifikation sie nachweisen müssen. Das ist so kompliziert, dass viele sich damit nicht beschäftigen wollen.
Bislang mussten zwischen dem Ausstellen der Beratungsbescheinigung und dem tatsächlichen Schwangerschaftsabbruch drei volle Kalendertage liegen, das soll sich künftig ändern. Warum werden diese drei Tage als ausschlaggebend angesehen?
Die Drei-Tage-Regel bedeutet für die ungeplant schwangere Personen oft, dass sich der Schwangerschaftsabbruch um eine Woche verschiebt, weil man ja immer das Wochenende einrechnen muss. Das ist eine große Belastung für die Klientin, wenn sie ihre Entscheidung bereits getroffen hat. Und es ist auch aus medizinischer Sicht nicht einfach, denn je später der Abbruch erfolgt, umso schwieriger wird es. Ein Termin in der Beratungsstelle wäre auch nach der Reform weiterhin vorgegeben, aber es würde eben mehr Flexibilität geben.
Was würde die Gesetzesänderung für ihre Beratung bedeuten?
Für viele Menschen ist die ungewollte Schwangerschaft eine krisenhafte Situation. Es gibt viel abzuwägen, zu unterstützen und viele Dinge im Leben zu betrachten, um eine Entscheidung zu finden, mit der die Menschen langfristig gut zurechtkommen. Das ist der Anspruch, den wir haben.
Derzeit ist es so, dass manche von vornherein mit einer gewissen Blockade in die Beratung gehen, was absolut verständlich ist. Sie fragen sich: Was muss ich denn jetzt sagen, dass ich auch dieses Papier [Beratungsbescheinigung, auch Beratungsschein, der bestätigt, dass die Schwangere eine Schwangerschaftskonfliktberatung in Anspruch genommen hat, Anm.d.Red] kriege? Muss ich mir Gründe ausdenken? Kann ich ehrlich sein und auch Zweifel offenlegen? Wir würden uns wünschen, dass sie ganz offen zu uns kommen können und sich einfach beraten lassen würden.
Mit einem neuen Gesetz müssten die Personen nicht das Gefühl haben, irgendwas Bestimmtes sagen zu müssen, um eine Bescheinigung zu kriegen.
Das klingt, als würde eine gewisse Angst mitschwingen, sich strafbar zu machen?
Diese Kriminalisierung schwingt, denke ich, immer mit. Das Wissen, dass es da einen Paragrafen gibt im Strafgesetzbuch. Für viele Frauen fühlt sich ihre Lage wie eine große Ausnahme an und es macht etwas mit ihnen, wenn sie sich vor Augen führen, wie die Gesellschaft mit dem Thema umgeht. Die Botschaft ist: Was du tust, ist eigentlich verboten und bleibt nicht ohne Folgen.
In dem medizinischen Angebot scheint es ein Stadt-Land-Gefälle zu geben. Außerhalb von Berlin kann es mitunter schwierig sein, eine Praxis zu finden, die Schwangerschaftsabbrüche anbietet.
Das stimmt, in Berlin ist es so, dass wir in dem Bereich eine gute Versorgung haben, weil es ein teils sehr engagiertes ärztliches Netzwerk gibt, in dem sich Medizinerinnen und Mediziner mit ihren Fragen austauschen können. Auf dem Land ist das anders, da ist die Unsicherheit bei niedergelassenen Ärzten und Ärztinnen oft größer. Außerdem existieren je nach Bundesland auch sehr unterschiedliche Vorgaben für die Arztpraxen. Die Medikamente werden über sogenannte Sondervertriebswege zur Verfügung gestellt. Über jede einzelne Tablette müssen komplizierte Dokumentationen erstellt werden. Das ist wirklich kompliziert. Insofern wäre es eine Vereinfachung, wenn eine Abrechnung als medizinische Leistung möglich wäre.
Wenn der Schwangerschaftsabbruch als regulärer Teil der medizinischen Ausbildung und der fachärztlichen Weiterbildung betrachtet wird, dann würde das auf der ärztlichen Seite viele offene Fragen beantworten.
Es hat in den vergangenen Jahren vor Beratungsstellen und Kliniken immer wieder Protest-Aktionen von Abtreibungsgegnern gegeben, die Frauen abgefangen und auf sie eingeredet haben. Seit einigen Wochen nun sind "Gehsteigbelästigungen" gesetzlich verboten. Macht sich das Verbot auch für Pro Familia bemerkbar?
In Berlin waren wir tatsächlich nur sehr wenig davon betroffen. Ich weiß aber von Kolleginnen bei Pro Familia in anderen Städten und von Ärzt:innen, die zum Beispiel in Pforzheim leben und arbeiten, dass wirklich sehr oft Gruppen vor der Beratungsstelle und vor der medizinischen Einrichtung standen. Für die ist es eine große Erleichterung, dass das jetzt verboten ist und in Zukunft nicht mehr passieren wird.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Birgit Raddatz, rbb24 Inforadio
Hintergrund zu Paragraf StGB 218
Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland durch den Paragrafen 218 im Strafgesetzbuch geregelt. Eingeführt wurde das Gesetz im Jahr 1871. Ursprünglich sah es eine Zuchthausstrafe von fünf Jahren für Frauen vor, die vorsätzlich abtrieben.
In den frühen 1900er Jahren gab es Debatten über mögliche Reformen, wobei ein Kompromiss gefunden wurde, der die Zuchthausstrafe abschaffen und das Höchstmaß auf zwei Jahre Gefängnis festsetzen sollte. Durch die NS-Zeit und die Nachkriegszeit hinweg blieb der Paragraf 218 bestehen, wobei Abtreibungen unter bestimmten Bedingungen straffrei blieben.
Heute steht der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland immer noch grundsätzlich unter Strafe - ist aber in den ersten zwölf Wochen straffrei, wenn Frauen sich vorher beraten lassen und zwischen der Beratung und dem Schwangerschaftsabbruch drei Tage vergehen. Krankenkassen übernehmen die Leistung nicht.
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