Berlin Konzert | Chilly Gonzales: Welches Monster schlummert in mir?
Der virtuose Pianist und Entertainer Chilly Gonzales spielt sich im Berliner Konzerthaus durch die musikalischen Kapitel seines Lebens und rechnet mit dem Geniekult ab. Von Corinne Orlowski
Barfuß in Pantoffeln und in einem Morgenmantel mit Camouflage-Print schlurft Chilly Gonzales auf die Bühne - im Gepäck eine vierköpfige Band. Nein, dieser Mann wird jetzt nicht einfach ein Konzert spielen. Vor allem, wenn das die letzte Show in diesem Jahr ist.
Der Saal ist in atmosphärisches Licht getaucht, an der Decke funkeln 14 riesige Kronleuchter. Er weiß zu überraschen und beginnt ... beinahe lieblich - bis die Band einsetzt und die Stücke mitreißend hochjazzt. Doch so richtig fallen lassen in die Musik kann man sich nicht. Dieses Gehuste im Zehnsekundentakt aus allen Ecken und Enden des Saals ist kaum auszuhalten. Egal. Chilly wird trotzdem nach jedem Stück ausgiebig zugejubelt.
"Deutschrap – Schnapsidee"
Nach etlichen Instrumentalalben hat sich der 52-jährige wieder an eines mit Lyrics gewagt. Während seiner zehnjährigen Psychoanalyse kamen keine Worte, sagt er, nur Melodien. Jetzt hat sich der Wahl-Kölner alles von der Seele geschrieben und erklärt seine Liebe zu Deutschland: rappt über Dirndl, ICEs und deutsche Pünktlichkeit.
Chilly Gonzales spielt sich quer durch die musikalischen Kapitel seines Lebens, allerdings ohne Dramaturgie. Mal wird es laut und repetitiv, das Stroboskoplicht flackert zu harten Beats, der Schweiß tropft dem Berserker auf die Tasten und - Bruch - im nächsten Moment gibt er sich wieder den süffig-sentimentalen Klavier-Kaskaden hin. Chilly Gonzales beherrscht das Wechselspiel zwischen Humor und Ernst, baut spannende Ambivalenzen auf.
Keine Cancel Culture
Und er spricht kontroverse Debatten an: Kann man Kunst vom Künstler trennen? Richard Wagner zum Beispiel? Wie ehrt man die Musik dieses begnadeten Künstlers und verachtet den antisemitischen Menschen? Indem man sich ihm stellt und nicht cancelt. Mit seinem Vater besuchte Gonzales als 16-Jähriger Bayreuth – seitdem ist Wagner eine Obsession.
Und er fragt sich, welches Monster schlummert vielleicht in ihm, dem selbsternannten "musical genius"? Gonzales enthüllt unter einem schwarzen Tuch: die Pauke und trommelt sich die Seele aus dem Leib. Damit kriegt er noch die steifesten Konzerthausbesucher aus ihren Stühlen gerissen. Hände hoch, von der Bühne gesprungen, die Leute abklatschen und dann von hinten nach vorne durch die Reihen klettern.
Wenn schon kein Stagediving, dann immerhin "Stageclimbing", oder so ähnlich? Ja, dieser Abend wird nicht so lange nachhallen wie andere Chilly-Gonzales-Konzerte, aber immerhin ist es einer, auf dem er sich am Ende noch selbst beschenken kann. Er holt den Rapper Blake auf die Bühne. Gemeinsam feiern sie sich selbst und das musikalische Chaos im Menschen.
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