Berlin Leben ist Performance
Professionelle Opernsängerin und ausdrucksstarke Malerin: Semiha Berksoy (1910-2004) bezeichnete sich selbst zu Lebzeiten als Gesamtkunstwerk. Ihre Retrospektive möchte die exzentrische Künstlerin auch als Mensch vorstellen. Von Julia Sie-Yong Fischer
Ein theatralischer Auftakt: Durch den dunklen, informativen Vorraum schreitet das Publikum durch einen geöffneten Vorhang und steht unverhofft auf der Hauptbühne, dem Ausstellungsraum. Honigfarbener, weicher Teppich dämpft die Schritte und die aufgestellten Wände mit den zahlreichen Gemälden und Zeichnungen werden zu szenischen Bühnenbildern. Ein gemaltes Porträt der Mutter steht mitten im Raum und begrüßt mit Schlafzimmerblick. Eine Tribüne wurde für Menschen und Bilder errichtet. Operngesang ertönt leise im Hintergrund. Der erste Eindruck von Semiha Berksoys Retrospektive ist zugleich erkennbares Konzept: Bühne, Leben und Kunst sind zu einer Ausstellungserfahrung verschmolzen.
Ausstellungsansicht Semiha Berksoy
Immer wieder Berlin
Ihr turbulentes Leben wird neben den Werken auch mit zahlreichen Fotos und Dokumenten sowie einem Kurzfilm näher gebracht: Semiha Berksoy ist die erste türkische Opernsängerin und wird 1910 als Kind einer Malerin und eines Dichters in Istanbul geboren. Der Verlust ihrer Mutter nur acht Jahre später wird sie lebenslang begleiten. 1923 ruft Mustafa Kemal Atatürk die türkische Republik aus. Berksoys Familie und Freundi:nnen sind aus dem akademisch und künstlerisch geprägten Umfeld und leben die säkularen und emanzipatorischen Werte ihrer Gegenwart.
In Berlin studiert sie als Beethoven-Fan ab 1936 an der Akademie für Musik. Von den Repressionen und Verfolgungen der Nazis verschont, lebt sie bis 1939 wie andere türkische Studierende mit einem großzügigen Stipendium ein sorgenfreies Leben in der Hauptstadt. Durch ihren großen Auftritt als Ariadne von Naxos in der gleichnamigen Oper von Richard Strauss (1939) wird ihr großes Talent auch von der breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrt sie als Künstlerin erst 1969 für ihre erste Ausstellung im Haus am Lützowplatz zurück.
Die Schau im Hamburger Bahnhof schließt für ihr Werk posthum einen Kreis, da ihr Schaffen unmittelbar mit Berlin verbunden war, wie Museumsdirektor Sam Bardaouil erklärt. In einer Ode, die er der Künstlerin im Katalog gewidmet hat, ergänzt er: "(...) and Berlin never leaves her".
Semiha Berksoy im Jahr 2002
Emotionale Selbstporträts
Die Ausstellung ist voller Bildnisse aus ihrem privaten Umfeld, Familienmitglieder, Musiker:innen und anderen Persönlichkeiten. In den großen Gemälden erinnert sie an ihre Auftritte als Ariadne oder Leonore. Sie strahlen mit vielen Details und Informationen, die direkt auf die Leinwand geschrieben wurden. Die farbigen Pinselstriche sind schnell und zielsicher gesetzt, eher expressiv als akribisch.
Eine Person taucht sicherlich in ihrem Werk am häufigsten auf: Berksoy selbst. Die "Otoportre", türkisch für Selbstporträt, geben Gefühlszustände völlig ungefiltert wieder. Bei dem Bild "Keder (otoporte)" (deutsch: Trauer) aus dem Jahr 1972 ist eine nur in schwarz gemalte Frau zu sehen. Ihr Blick ist leer, aus ihren Augen verlaufen Striche die wie Tränen hinunterstürzen. Eine horizontale Linie schneidet den Kopf vom Hals ab. Es ist die bei Berksoy so oft eingesetzte "Schicksalslinie", die die Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits markiert. Der nackte Oberkörper wird durch ein aufgemaltes Herz unter der Brust ergänzt, ein breiter Spalt öffnet sich morbide in der Körpermitte. Es sind simple malerische Gesten, die jedoch das erinnerte Gefühl als persönliche, körperliche Erfahrung präzise wiedergeben.
"Ich bin ein Gesamtkunstwerk!"
Dass Künstler:innen sich nicht immer nur auf eine Ausdrucksform beschränken, beweisen viele Beispiele wie etwa Sharon Stone oder Billie Childish. Oft ergibt sich eine malerische Karriere eher nach dem ersten großen Ruhm, teilweise von zweifelhafter Qualität.
Berksoy steht jedoch im Mittelpunkt ihrer Kunst, ihre Malerei ist der Musik ebenbürtig. Alles was sie und ihr Leben betrifft, ist für das Publikum in unterschiedlichen Facetten erfahrbar. Während in der klassischen Musik Akkuratesse und Harmonien aufeinandertreffen, ist in ihrer Malerei die Intention und das Gefühl vielleicht etwas wichtiger. Und so malt sie die meisten Bilder völlig frei auf unkonventionellen Untergründen wie Hartfaserplatten oder sogar eine Kühlschranktür.
1994 gestaltet sie in Istanbul ein Schlafzimmer, hängt selbstbemalte Laken auf und zeigt persönliche Gegenstände. Auch ihre Schminke wird zum Lebensende hin Teil ihrer Malerei - oder ist es doch vielleicht andersherum? Weibliche Vulnerabilität und Distanzlosigkeit gepaart mit unkonventionellen Darstellungen schaffen es immer wieder, ihre Werke auch zu einem humorvollen Vergnügen werden zu lassen. Ihre Performance endet niemals, ist immer "on", niemals "off". Ganz natürlich scheint die Grenze von Privatleben und Kunst bei ihr zu verschwimmen. Und wie Semiha Berksoy selbst in einem seltenen Interview von 2003 sagte: "Ich bin ein Gesamtkunstwerk, eine Synthese aus allen Kunstformen!"
Sendung: rbb24 Inforadio, 04.12.2024, 18 Uhr