
Berlin Prozessauftakt: Junge Frau von der Straße entführt, misshandelt und vergewaltigt?
Ein Mann soll in Berlin eine 20-Jährige in seiner Wohnung unter Drogen gesetzt, sie stundenlang schwer misshandelt und vergewaltigt haben. Die junge Frau selbst kann sich nicht erinnern. Nun hat der Prozess gegen den 38-Jährigen begonnen. Von Ulf Morling
Wegen Vergewaltigung und schwerer Misshandlung einer jungen Frau muss sich seit Dienstag ein 38-Jähriger vor dem Berliner Landgericht verantworten. Der Angeklagte soll die Frau in seine Wohnung gelockt und sich dort an ihr stundenlang vergangen und sie gequält haben – bis zum Herzstillstand.
Im April 2022 soll Marvin S. die 20-jährige Marla R. am Rathaus Steglitz getroffen haben, die auf dem Nachhauseweg war vom Besuch bei einer Freundin. Laut Staatsanwaltschaft soll es ihm gelungen sein, "die stark alkoholisierte Zeugin zu überzeugen, mit in seine Wohnung (…) zu kommen". Dort soll der 38-Jährige ihr ein Gemisch aus Kokain und Heroin gespritzt, sie stundenlang vergewaltigt und schwer misshandelt haben, bis zum Morgen des nächsten Tages.
Gegen 13 Uhr alarmierte S. den Notarzt der Feuerwehr. Die Beamten fanden Marla R. in der Steglitzer Wohnung leblos und mit unzähligen Verletzungen und einem Herzstillstand vor. Sie soll zwölf Minuten lang reanimiert und intubiert worden sein, bis sie wieder Puls hatte. In der Charité musste sie fünf Tage lang ins künstliche Koma versetzt werden.

Mutter erfuhr durch Zufall vom Koma der Tochter
Marlas Mutter, Christiana R., wusste nichts von dem, was geschehen war. Als sie am Tag der Einlieferung ihrer lebensgefährlich verletzten Tochter in die Intensivstation im Urlaub auf ihrem Handy deren Standortdaten suchte, stutzte sie: Die 20-Jährige hatte für ihr Fachabi lernen wollen, sollte angeblich in der Charité sein? Als die besorgte Mutter in der Klinik anrief, teilte ihr ein Arzt von der Intensivstation mit, dass Marla reanimiert worden sei und er nicht mit Sicherheit sagen könne, dass er sie durchbringen könne. "Wenn ich mich von ihr verabschieden wolle, müsste ich so schnell als möglich in die Klinik kommen", sagt Christina R. gegenüber dem rbb. Fünf Tage später wurde Marla aus dem künstlichen Koma geholt.
Der jetzt Angeklagte hatte von Beginn an freien Zugang zu der 20-Jährigen in der Klinik. Laut der Nebenklagevertreterin Christina Clemm sorgte erst die Mutter dafür, dass Marvin S. nicht mehr sein mutmaßliches Opfer besuchen konnte – das laut Staatsanwaltschaft hätte sterben können.
Nahm die Polizei die Tat nicht ernst?
Notärztin und Feuerwehr seien sehr bemüht gewesen, in der Wohnung des Angeklagten das Leben von Marla R. zu retten, sagt Anwältin Clemm. Die Beamten hätten Marvin S., der die Feuerwehr alarmiert hatte, vorgefunden mit einer halb so alten Frau. Ihr Körper sei unter anderem beschmiert gewesen mit Ausdrücken wie "Whore" (Hure) und habe zahlreiche Verletzungen aufgewiesen. Sie denke, man habe überhaupt nicht ernst genommen, dass hier eine schwere Straftat möglicherweise geschehen sei, so die Anwältin.

"Wenn ich gestorben bin …"
Marla R. hat bis heute laut ihrer Aussage vor Gericht keine Erinnerung mehr an den Tattag. Am Dienstag, dem ersten Prozesstag, werden deshalb im Gerichtssaal mehrere Whatsapp-Audios vorgespielt und Posts vorgelesen, die Marla R. Freundinnen geschrieben hatte, beziehungsweise die sie von ihnen empfangen hatte - nach dem Verlassen der Wohnung der Freundin und nachdem sie auf Marvin S. an einer Steglitzer Bushaltestelle getroffen war.
Zuerst redet R. darauf von "Angstzuständen" auf der Straße, weil die Passanten "mir auf jeden Fall ansehen, dass ich besoffen bin". In einem anderen Audio spricht sie aus Marvin S. Wohnung einer Freundin die Nachricht auf: "Ich hab jetzt Marvin kennengelernt. (…) Wenn ich gestorben bin, musst Du meiner Mama Bescheid sagen."
Angeklagter bestreitet Vorwürfe
Marvin S. wird unter einer schwarzen Jacke versteckt zum Prozessauftakt von seinen beiden Anwälten in den Gerichtssaal geführt: Er bestreite die Tatvorwürfe; er wolle sich nicht weiter dazu einlassen.
Nachdem im Juni 2022 bei S. den Ermittlern zufolge auf einer Festplatte 374 Bilddateien mit schwerem sexuellen Missbrauch von Erwachsenen mit Opfern "teilweise im Bereich des Kleinkindalters" gefunden worden sein sollen, war der Angeklagte acht Monate nach den mutmaßlichen Vergewaltigungen und schweren Misshandlungen von Marla R. verhaftet worden. Nach zweieinhalb Monaten wurde er wieder entlassen und der Haftbefehl war aufgehoben worden. Aus Sicht des Gerichts hatte es keinen dringenden Tatverdacht mehr gegeben.
Der jetzige Prozess kann – fast drei Jahre nach dem knappen Überleben von Marla R. – nur stattfinden, weil das Verfahren wegen eines zumindest "hinreichenden Tatverdachts" eröffnet worden war, um die vorgeworfenen Geschehnisse zu verhandeln.

Opfer hat bis heute Schmerzen
"Eigentlich wissen wir ja, wieviel Gewalt es gegen Frauen gibt und wir wissen, wie häufig Betäubungsmittel dabei eine Rolle spielen. Wir kennen alle diese K.O.-Tropfen-Fälle", so Nebenklageanwältin Clemm. Offensichtlich gäbe es aber immer noch keine Sensibilität zu sagen: Wir ermitteln erst einmal. "Sonst verwischen die Spuren, dann gibt es sie nicht mehr." Allerdings habe man beim Angeklagten Videos und Fotos von der angeklagten Tat gefunden, auf denen Marla R. unter anderem misshandelt und missbraucht werde. "Wenn wir die Fotos und Videos nicht gehabt hätten, hätten wir kein Verfahren hier", sagt die Anwältin.
Marla R. leidet bis heute laut einem begutachtendem Arzt der Rechtsmedizin unter anderem an einer Gehbehinderung, chronischen Schmerzen und einem wiederkehrenden Verlust ihres Seh- und Hörvermögens. Fast drei Jahre lang habe sie aus Angst nur selten ihre Wohnung verlassen. Immerhin versuche sie inzwischen wieder, ihr Fachabitur zu machen, was sie nach der Tat am 22. August 2022 hatte abbrechen müssen – schließlich habe sie im künstlichen Koma gelegen, als ihre Mitschüler:innen die Prüfung abgelegt hätten.
Sechs weitere Prozesstage bis zum 29. April 2025 sind geplant.
Sendung: rbb 88,8, 25.05.2025