Heimathafen Neukölln: Dualidarität © Jeanne Degraa / Merav Maroody | Grafik: Matthias Nebe
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Berlin Uraufführung am Heimathafen Neukölln: Von Solidarität und "Dualidarität"

Stand: 29.03.2025 10:55 Uhr

Der israelische Theaterautor Avishai Milstein legt am Heimathafen Neukölln ein neues bitterböses Mini-Drama über den deutschen Kulturbetrieb vor. Zu "Mini" für den großen Wurf – doch mit viel Komik und Wahrheit. Von Barbara Behrendt

Avishai Milstein sitzt in Israel im Luftschutzbunker. Also: nicht der wahre Avishai Milstein, sondern die Figur in seinem neuen Stück "Dualidarität" – die dem Autor allerdings bis aufs Haar gleicht. Die Sirenen heulen, mit einem großen Knall wird eine Rakete abgeschossen, ein Teil davon landet in Milsteins Wohnzimmer.
 
Da klingelt sein Handy. Eine Dramaturgin eines deutschen Stadttheaters ist am Apparat und hat, Raketenbeschuss hin oder her, Wichtiges zu besprechen. Sie möchte sein neues Stück aufführen! Oder, halt: nicht "aufführen", eher szenisch lesen. Und auch nicht das ganze Stück, nur eine Szene. Und bitte auf keinen Fall länger als zehn Minuten! Das sind doch wohl großartige Neuigkeiten, oder etwa nicht?

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Kritik an deutscher Selbstüberhöhung

Schon in den ersten Minuten steckt der Kern von Milsteins Kritik an der deutschen Selbstüberhöhung. Die Dramaturgin weint bitterlich, als der Autor ihr vom derzeitigen Leid der Menschen in Israel und Gaza erzählt – über sich selbst: "Ich verlieren den Verstand!"
 
Der Autor (im Stück) ist Kummer aus Deutschland gewohnt und will an seinen Verlag verweisen. Bis die Dramaturgin ihn um einen Gefallen bittet: Er solle doch mal eben in seinen Kontakten nach einem palästinensischen Theaterautor in Gaza schauen, der sich positiv zu Israel äußert. Denn den brauche es natürlich für die szenische Lesung im Theater – ohne palästinensische Stimme kommt auch keine israelische zu Wort. Es brauche Solidarität mit beiden Seiten, also: "Dualidarität".

Bitterkomische Satire

Diese Wortneuschöpfung gibt dem Abend nicht nur seinen Titel, sondern ist die Steilvorlage für die bitterkomische Satire im Anschluss. Avishai Milstein ist bekannt dafür, mit bösem Humor über Deutschlands Blick auf Israel zu schreiben. Auch dieses neue Mini-Drama "Dualidarität", das nun am Heimathafen Neukölln uraufgeführt wird, ist kein Stück über Nahost, sondern eines über Deutschland.
 
Und der deutsche Kulturbetrieb kriegt sein Fett weg. Denn die Dramaturgin hat nicht nur keinen blassen Schimmer, was in Gaza und in Israel los ist, es interessiert sie auch herzlich wenig. Hauptsache, sie kann mit der Aktion an ihrem Theater Eindruck machen. Hauptsache, Deutschland gibt sich als Wohltäter und Völkerverständiger.

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Sind Deutsche wirklich so hohl?

Es wird viel wissend gelacht an diesem Abend, den der Regisseur Benno Plassmann nur mit einem Stuhl und einem Sitzsack auf der Studiobühne im Heimathafen inszeniert. Er konzentriert sich ganz auf das pointierte Telefongespräch der beiden Figuren, gespielt von Anabel Möbius und Ariel Nil Levy.
 
Wobei es Letzterer komfortabler hat in der Rolle des gebeutelten Autors, der in allem Recht behält. Die Figur der Dramaturgin ist dagegen eine derart hohle Nuss, dass es ein Leichtes ist, sie auf Abstand zu halten – dazu trägt dann auch Möbius' echauffiertes, überhöhtes Spiel bei. Die egoistischen Beweggründe, die Avishai Milstein in seinem Stück beschreibt, sind wahr, doch sie werden wohl kaum in derart dämlicher Art und Weise geäußert. Oder etwa doch? In der Diskussion im Anschluss sagt Milstein, er habe im echten Leben noch viel Schlimmeres erlebt seitens deutscher Dramaturg:innen. Oha.
 
Der Dynamik des Abends ist es trotzdem wenig zuträglich, dass die souveräne Autoren-Figur auf ein so wenig ebenbürtiges Gegenüber trifft. Genau hier hätte die böse Farce noch spannender werden können: Wo beginnt die deutsche Positionierung dazu wichtiger zu werden als die Menschen im Nahost-Konflikt? Wie umgehen mit dem zunächst einmal redlichen Versuch, "beide Seiten hören" zu wollen? Wie viel Antisemitismus mag allein in der Aussage stecken, eine israelische Stimme nicht allein für sich sprechen lassen zu wollen?

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Mangelnde Solidarität – für beide Seiten

Klar, der deutsche Kulturbetrieb tut sich schwer. Seit dem 7. Oktober 2023, dem Terroranschlag der Hamas auf Israel, wird ihm nachgesagt, ein Problem mit Antisemitismus zu haben. Von einem "dröhnenden Schweigen" im gesamten Kulturbetrieb war immer wieder die Rede, es fehle die Solidarität mit jüdischen Menschen. Doch auch Palästinenser:innen beklagen eine mangelnde Solidarität mit dem Leid der Menschen in Gaza. Veranstaltungsboykotte gibt es auf beiden Seiten.
 
In einer Szene des Stücks spricht die Figur Milstein dann auch von seinem eigenen Leben. Erzählt von den unglaublichen Hürden, vor fünf Jahren mit seinem palästinensischen Schauspieler-Freund in Gaza einen Kinoabend zu organisieren. Und davon, wie dieser Freund nach dem 7. Oktober im Fernsehen gesteht, eine Frau beim Musik-Festival vergewaltigt zu haben. Eine reale Geschichte? Was können Kultur und Kunst überhaupt in puncto Menschlichkeit ausrichten?

Lob beim Publikumsgespräch

All das kann in kurzen 45 Minuten Mini-Drama natürlich nur oberflächlich angerissen werden. Die Ironie der Geschichte: das "Institut für Neue Soziale Plastik", von jüdischen Künstler:innen gegründet, hat das Stück als "Kurzstück" in Auftrag gegeben, zunächst einmal für eine "szenische Lesung" – ganz wie im Mini-Drama dann torpediert. Beim Publikumsgespräch im Anschluss an die Premiere verweist die Dramaturgin und Leiterin des Instituts, Stella Leder, augenzwinkernd auf diese Ironie.
 
Überhaupt gibt es im Gespräch ausschließlich Lob für den Abend – das hätte man sich in Neukölln mit seiner stark propalästinensischen Bevölkerung auch anders vorstellen können. Gut, dass der Heimathafen nun neben seinem Engagement für palästinensische Geflüchtete auch diesen israelischen Autor im Programm hat. Oder etwa nicht? Da ist sie wieder: die deutsche Freude an der "Dualidarität".

Sendung: rbb24 Inforadio, 29.03.2025, 07.55 Uhr