Berlin Berliner Anwalt im Interview: "Die meisten Verfahren werden eingestellt"
Direkt nach Silvester werden Hunderte Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die Erfahrungen aus den letzten Jahren zeigen, dass nur wenige Verfahren in einem Urteil münden. Ein Berliner Rechtsanwalt erklärt im Gespräch, woran das liegen könnte.
rbb|24: Fast zwei Millionen Menschen haben eine Petition zum Böllerverbot unterschrieben. Wie hilfreich wäre Ihrer Meinung nach ein Böllerverbot zur Vermeidung von Straftaten an Silvester?
Julius Frenger: Ein Böllerverbot würde Straftaten nicht komplett verhindern. Weil es natürlich auch zahlreiche Leute gibt, die sich dann in Polen mit Sachen versorgen und dann trotzdem Böllern würden. Aber Fälle wie mit dem Influencer [der eine Rakete in eine Wohnung geschossen hat, Anm. d. Red.] wären wahrscheinlich nicht passiert, weil der vermutlich diese Rakete nicht gehabt hätte. Ich könnte mir vorstellen, dass es weniger Straftaten werden würden. Ganz verhindern ließe sich aber vieles nicht.
Hatten Sie bereits einen Fall, in dem Ihr Klient Silvester eine Dummheit mit Böllern begangen hat?
Ich hatte schon häufiger Fälle mit Schreckschusswaffen. Die darf man zwar frei und ohne Waffenschein erwerben, aber man darf sie nicht draußen dabei haben und schon gar nicht draußen rumschießen an Silvester. Das kommt eigentlich jedes Jahr vor, auch in diesem Jahr.
Wie gehen Sie mit so einem Fall um?
Die meisten Verfahren werden eingestellt. Da das so häufig vorkommt, überrascht das am Ende des Tages keinen mehr. Es kommt aber natürlich auf die Person an: Wenn die schon mehrfach vorbestraft ist, dann gibt es auch mal eine Geldstrafe dafür. Aber ins Gefängnis geht dafür niemand.
Sie sagen: "Das überrascht keinen mehr." Denken Sie, es spielt für die Gerichte eine Rolle, dass so ein Verhalten an Silvester bis zu einem gewissen Grad normal ist?
Die Dinger sind schon gefährlich. Wenn man damit auf Personen schießt, dann können schwere Verletzungen entstehen aus einer gewissen nahen Distanz. Es passiert aber so viel an Silvester. Und wenn die Person zum Beispiel sagt, sie könne sich nicht mehr daran erinnern, dass sie diese Waffe dabei hatte - das setzt natürlich voraus, dass nicht damit geschossen wurde, sondern dass die Waffe bei einer Durchsuchung zutage gefördert worden ist - , dann sagt das Gericht vielleicht: Es gibt durchaus schlimmere Sachen, die an Silvester passieren, als aus Versehen eine Schreckschusswaffe dabei zu haben.
Derzeit sitzt ein Influencer aus dem Westjordanland in Berlin in U-Haft. Ihm werden versuchte schwere Brandstiftung, versuchte gefährliche Körperverletzung und Sachbeschädigung vorgeworfen und ihm drohen mindestens sechs Monate Haft. Ist das Ihrer Meinung nach verhältnismäßig?
Jetzt mal meine Einschätzung als Privatperson: Wenn ich mir dieses Video anschaue, bin ich der Meinung, dass er nicht versucht hätte, die Rakete irgendwo anders hinzuschießen. Das sah schon so aus, als wäre in Kauf genommen worden, dass die in das gegenüberliegende Haus fliegt. Und deshalb muss man schon darüber nachdenken, ob die von Ihnen genannten Straftatbestände erfüllt sein können.
Dass er festgenommen wurde am Flughafen, das liegt, glaube ich, an anderen Dingen. Er hat sich ja offenbar auf ein Interview eingelassen hatte, in dem er sagt, dass er die Sache geklärt habe und jetzt vorhabe wieder nach Hause zu fahren. Das ist natürlich unklug aus seiner Sicht. Damit signalisiert er Fluchtgefahr. Im Westjordanland ist er ja nicht erreichbar für die Berliner Behörden. Die Frage ist, ob er bei einer Haftprüfung möglicherweise die Aussicht hat, wieder rauszukommen, wenn er sagt: 'Ich kann bei einem Kumpel schlafen und bleibe in Deutschland.' Das kann ich mir schon vorstellen. Aber Ausreisen ins Westjordanland geht jetzt erstmal nicht.
Der Influencer sagte in diesem von Ihnen angesprochenen Interview mit "Zeit Online", dass er angeblich keine Ahnung von Raketen habe, nicht wisse wie diese funktionieren und die Tat nicht absichtlich begangen habe. Inwiefern spielt diese Aussage eine Rolle für das Gericht? Kann man da noch von versuchter gefährlicher Körperverletzung und versuchter schwerer Brandstiftung sprechen?
Feuerwerksraketen gibt es im Westjordanland sicherlich auch. Aber vielleicht sind die ja nicht ganz so explosiv wie die Raketen, die hier verkauft werden und fliegen nur fünf Meter. Wenn er sagt, dass er nicht wusste, wie weit die Rakete fliegen würde, dass er nicht damit gerechnet habe, dass sie in das Haus gegenüber fliegt, dann würde möglicherweise der Vorsatz der Tat entfallen. Wenn der Vorsatz komplett wegfallen würde, dann wäre die Rakete fahrlässig in das Haus geflogen.
Mit mehr als 600 eingeleiteten Ermittlungsverfahren nach Silvester klingt es so, als würde es vielen Menschen an den Kragen gehen. Die Bilanz der letzten zwei Silvester-Jahre sind dann aber: eine Haftstrafe, zwei Haftstrafen auf Bewährung und zehn Geldstrafen. Wie erklären Sie die doch eher wenigen Strafurteile?
Von den Ermittlungsverfahren an Silvester sind sicher mindestens die Hälfte kleinere Trunkenheitsdelikte oder Beleidigungen. Dafür kommt man nicht in den Knast, wenn man das nicht schon zehn Mal gemacht hat. Auch für Körperverletzung nicht. Wenn es Haftstrafen in den letzten Jahren gegeben hat, dann müssen die Taten damals schon sehr schwere Folgen gehabt haben.
Sie haben vor allem von Haftstrafen gesprochen. Es gab aber auch nur wenige Geldstrafen und offenbar wurden sehr viele Verfahren eingestellt ...
Das kann mit der Überlastung der Justiz zu tun haben.
Haben Sie damit schon Erfahrung gemacht, dass Verfahren deshalb eingestellt wurden?
So explizit natürlich nicht. Es werden aber schon viele Verfahren eingestellt wegen geringer Schuld.
Und Sie vermuten dahinter mangelnde Ressourcen an den Gerichten?
Das kann ich jedenfalls nicht ausschließen.
Was meinen Sie: Inwiefern spielt es beim Strafmaß eine Rolle, dass viele der Täter an Silvester jugendlich sind?
Das spielt eine Riesenrolle. Im Jugendstrafrecht kommt es eher selten zu Haftstrafen, die man tatsächlich auch antreten muss. Eigentlich nur bei schwerwiegenden Delikten. Und es wird auch viel großzügiger ein Verfahren eingestellt, flankiert zum Beispiel mit Arbeitsauflagen, Erziehungskursen, psychologischen Gesprächen oder so.
Wie stellt man es als Verteidiger an, dass ein Verfahren eines Mandanten eingestellt wird, der zum Beispiel Einsatzkräfte mit Böllern beworfen hat?
Der Jugendliche sollte von sich aus ein bisschen Goodwill zeigen und schon vor dem Prozess psychologische Gespräche wahrnehmen. Damit man dann nachweisen kann, dass aus freien Stücken schon der Versuch unternommen wurde, seine Impulskontrolle in Zukunft besser im Griff zu haben und man deutlich macht, dass es einem leid tut.
Mehrere Politiker haben auch in diesem Jahr nach Silvester betont, dass man die Straftäter hart bestrafen werde. Hat das Ihrer Meinung nach eine Wirkung auf Ihre potentiellen Mandanten oder auf die Gerichte?
Ich weiß nicht, ob das eine Wirkung auf Mandanten hat. Ich weiß nicht, inwiefern sie die Medien, die sowas berichten, überhaupt konsumieren. Auf Gerichte hat das sicherlich keinen Einfluss, sollte es auch nicht haben, denn die sind ja unabhängig von den Politikern. Man setzt ja eigentlich voraus, dass auch Politiker die Gewaltenteilung kennen. Aus meiner Sicht ist es grenzwertig von Politikern, harte Strafen zu fordern.
Aus Ihrer Sicht wäre es sinnvoller, wenn Politiker die Gerichte mit mehr Personal ausstatten würden, damit wirklich alle Verfahren verfolgt werden können?
Genau.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Anna Bordel, Redakteurin bei rbb|24.de