
Brandenburg Berlin Sollten Schulbesuche in ehemaligen KZs zur Pflicht werden?
Steigender Antisemitismus an Bildungseinrichtungen und Wissenslücken zum Holocaust – kann eine Besuchspflicht für Schulen dagegen helfen? Die Union sagt ja, aber was sagen Schüler:innen, Lehrkräfte und die Gedenkstätten selbst? Von Anna Severinenko
Es ist ein kalter klarer Februartag an der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Sachenhausen im Brandenburger Landkreis Oberhavel - wenige Tage nachdem am Holocaust-Gedenktag der Befreiung von Auschwitz vor 80 Jahren gedacht wurde. Die 9. Klasse des Ulrich-von-Hutten-Gymnasiums aus Berlin-Lichtenberg ist zu ihrem Besuch eingetroffen. Für die meisten Schüler:innen dieser Klasse ist es das erste Mal in einem ehemaligen KZ.
Union fordert bundesweite Besuchspflicht für Schulen
Sollten solche Besuche einer Konzentrationslager-Gedenkstätte ein fester Bestandteil des Lehrplans an öffentlichen Schulen werden? Die Unionsfraktion hat sich im vorigen Jahr im Bundestag für eine Besuchspflicht ausgesprochen. Was soll damit bewirkt werden?
Der bildungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Thomas Jarzombek, erklärte die Forderung damit, dass "die Erinnerung an die Schrecken der Schoah bei den nachkommenden Generationen wachgehalten" werden soll. In dem Antrag wird der steigende Antisemitismus an deutschen Schulen und Hochschulen seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 angeprangert.
Auch gesellschaftlich wird der Wissensstand von jungen Menschen zum Nationalsozialismus diskutiert. Eine repräsentative Umfrage der Jewish Claim Conference [claimscon.org] aus dem Januar zum Wissensstand der 18- bis 29-Jährigen hat ergeben, dass in Deutschland zwölf Prozent der Menschen in dieser Altersgruppe bisher nicht vom Holocaust gehört hätten. Kann eine Besuchspflicht diesen Entwicklungen entgegenwirken?

Das KZ Sachsenhausen (Oberhavel) wurde im Sommer 1936 errichtet und am 22. April 1945 von sowjetischen und polnischen Truppen befreit.
Besuchspflicht in drei Bundesländern
In Berlin und Brandenburg gilt keine Besuchspflicht, denn Bildung ist Ländersache. Die Schülerinnen und Schüler des Ulrich-von-Hutten-Gymnasiums wollten die Gedenkstätte besuchen. Zwei Länder haben die Pflicht bereits für die neunte Jahrgangsstufe eingeführt: Bayern und das Saarland. In Hamburg möchte die Schulsenatorin Ksenija Bekeris (SPD) die Besuchspflicht noch dieses Jahr umsetzen.
Für die neunte Klasse aus Berlin beinhaltet der Besuch der Gedenkstätte Sachsenhausen ein vierstündiges Programm. In den ersten zwei Stunden findet ein Workshop mit ihrem Guide statt, bei dem sich die Schüler:innen mit Fotografien, Zeichnungen, Dokumenten und Quellen zum KZ Sachenhausen beschäftigen. In Gruppenarbeit soll sich jede Gruppe inhaltlich auf eine Station des KZs vorbereiten. Die Schüler:innen befassen sich mit Themen wie Fluchtversuchen der Häftlinge, die Arten der Zwangsarbeit und dem Aufbau des Lagers. Anschließend findet eine Führung über das Gelände statt, bei der die jeweiligen Gruppen ihren Mitschüler:innen über das vorbereitete Thema erzählen. Der Guide liefert weitere Informationen, stellt und beantwortet Fragen.
Reiner Schulunterricht nicht mit Besuch vergleichbar
Die Wirkung eines Besuchs lässt sich für die Schüler:innen nicht mit theoretischem Lernen vergleichen. Die Schülerin Alija sagt während der Führung über das KZ-Gelände: "Natürlich ist Unterricht in der Schule nicht vergleichbar damit, zu diesem Ort zu gehen, wirklich zu sehen. Wir sind durch diesen Eingang durchgegangen, um es uns anzuschauen, während andere Menschen gekommen waren, um zu sterben. Das finde ich noch mal intensiver, wenn man einfach alles hier hautnah sehen kann."
Das eiserne Tor mit der Inschrift "Arbeit macht frei", rekonstruierte Baracken der jüdischen Häftlinge mit kurzen hölzernen Stockbetten, der Zellenbau, in dem Häftlinge ohne Tageslicht eingesperrt und gefoltert wurden. Die Jugendlichen lernen an dem Tag mit allen Sinnen. Vor Ort versuchen sie, sich in die Situation hineinzuversetzen.

Die Schüler:innen dürfen sich Inhalte selbst erarbeiten, Fragen stellen, aber auch beantworten.
Der Besuch wirkt
Auch bei Alijas Mitschüler Amjad löst der Besuch in Sachsenhausen viel Nachdenken aus: "Ich konnte mir vorher nicht vorstellen, wie die Häftlinge gelebt haben, jetzt kann ich es etwas besser", erzählt er während der Besichtigung einer Baracke. "Wenn man sich das vorstellt: Dieses Gefühl, dass man so zusammengepfercht, aber immer noch so einsam ist und nicht mehr als Mensch angesehen wird." Trotzdem ist er gegen eine Pflicht: "Es ist wichtig, sich zu erinnern, damit man die Fehler in Zukunft vermeiden kann. Aber eine Pflicht würde ich nicht unterstützen. Es kann ja auch sein, dass manche Leute sich dafür einfach nicht interessieren, dann ist es Zeitverschwendung für beide Seiten. Diese Leute würden hier bestimmt auch nicht so viel mitnehmen."
Ihre Klassenlehrerin, Alma Kittler, lehnt eine Besuchspflicht ebenfalls ab. Kittler sagt, dass es den Lehrkräften überlassen werden sollte, wie und wann man der Klasse Inhalte nahebringt: "Es ist immer so, dass man individuell auf die Schülergruppe eingehen muss. Es gab auch schon Jahrgänge, mit denen ich keinen Besuch gemacht habe."

Es braucht mehr als nur den Besuch
Für die Besuche wäre ein gewisser Wissensstand erforderlich, argumentiert Alma Kittler. Im Unterricht muss die Klasse vor- und nachbereitet werden. Der Besuch könne dann das Wissen einbetten und ergänzen.
Die Lehrerin erzählt, dass an ihrer Schule eine zehnte Klasse keinen Guide mehr bekommen hat, weil alles ausgebucht war. Die Schüler:innen wurden dann mit Audioguides losgeschickt. "Dann würde ich lieber gar keinen Besuch machen als solch einen. Das bringt nichts, wenn die Schülerinnen und Schüler nicht den nötigen Kontext bekommen und während der Führung keine Fragen stellen können."
Ihre Klasse stellt viele Fragen an den Guide. Der findet, dass die Jugendlichen schon ziemlich viel wüssten, überdurchschnittlich viel für das Alter.

Arne Pannen leitet die Bildungsabteilung in der Gedenkstätte Sachsenhausen.
"Es gibt ein gefühltes, aber kein wirkliches Wissen"
Eine Abnahme des Wissens unter jungen Menschen, wie aus der Umfrage der Jewish Claims Conference in der Presse gefolgert wurde, kann Arne Pannen nicht beobachten. Der Bildungsleiter der Gedenkstätte Sachsenhausen findet, das Wissen über die NS-Zeit sei schon immer relativ gering gewesen. "Meine Erfahrung ist auch, dass Menschen, die hier hinkommen – Jugendliche, aber auch Erwachsene – oftmals ein großes gefühltes Wissen haben. Aber die Inhalte, was historisch passiert ist, das wird eigentlich nicht in der Tiefe behandelt. Das merke ich schon, dass es ein gefühltes Wissen gibt, aber kein wirkliches Wissen."
Zur Vermittlung dieses fundierten Wissens können die Gedenkstätten viel beisteuern, indem sie es vor Ort veranschaulichen. Nichtsdestotrotz ist der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Axel Drecoll, gegen eine Besuchspflicht. "Ein wichtiger Grundsatz der Bildungsarbeit in Gedenkstätten ist die freiwillige Entscheidung", sagte Drecoll in einem Interview mit der "Welt". Der Gedenkstättenleiter befürchtet, dass ein Pflichtbesuch für junge Menschen eine "emotionale Überforderung" darstellen könnte, die niemandem aufgezwungen werden sollte.

Besuchspflicht würde Kapazitäten sprengen
Auch Arne Pannen lehnt eine Pflicht ab: "Das kann dazu führen, dass Schüler, wenn sie gezwungen werden, hierherzukommen, eher Abwehrreaktionen zeigen. Das ist zumindest unsere Erfahrung."
Der Betreuung der Besucher:innen nachzukommen sei für den Bildungsleiter ein weiterer Grund gegen die Besuchspflicht. Für Pannen geht es um vorhandene Kapazitäten bei Finanzen und Personal. Bereits zum jetzigen Zeitpunkt hätten die Gedenkstätten lange Wartelisten, ein Besuch mit Führung müsse Monate im Voraus gebucht werden. "Wenn jetzt alle Schulklassen Brandenburgs und Berlins in KZ-Gedenkstätten fahren würden, müssten diese Kapazitäten stark ausgebaut werden."
Bei der Abschlussrunde am Ende des Besuchs reflektiert die 9. Klasse des Ulrich-von-Hutten-Gymnasiums, was sie bei dem Besuch gelernt und erfahren haben. Der Schülerin Martha sind vor allem die Apelle und Baracken im Gedächtnis geblieben. "Das ist, womit man sich menschlich dann noch wenigstens ein bisschen vergleichen könnte. Wie lebe ich jetzt und wie haben die Häftlinge damals gelebt? Denn das andere ist ja nicht vorstellbar." Alija hat ebenfalls Schlüsse für ihr sich und ihre Gegenwart gezogen: "Man sollte dankbar sein für das Leben, das man führt und hoffen, dass sich sowas nicht wiederholt."