Brandenburg Berlin Boxen, Judo und Karate: Mit Kampfsport gegen die Unsicherheit
Box- und Kickbox-Vereine berichten von immer mehr Zulauf - auch durch Eltern, die ihre Kinder "fit für die Straße" machen wollen. Doch Experten betonen: Kampfsport ist nicht zwingend eine gute Selbstverteidigung. Von Linh Tran und Helena Daehler
Schwitzend hält Jeremy die großen schwarzen Boxhandschuhe nah vor sein Gesicht. Leichtfüßig tänzelt er im Boxring um seinen Gegner. "Du lässt die Linke fallen", sagt sein Trainer Dirk Wuttke, der lässig an den Seilen des Boxrings lehnt. "Nimm sie hoch, die Linke!" Jeremy setzt die Tipps gleich um. Linker Haken, rechter Haken – schnelle gerade Schläge.
Jeremy Ring ist 16 Jahre alt und boxt nicht nur, weil es ihm Freude macht, sondern auch, weil er in der Schule Probleme hatte. Er sei öfters in Prügeleien geraten, oft beleidigt und geschlagen worden, erzählt er. "Da will ich mich auch wehren können".
Seit mehr zwei Jahren geht Jeremy regelmäßig zum Boxtraining im Amateur-Boxverein BSC Süd 05 in Brandenburg an der Havel. Dirk Wuttke ist hier der Chef. Er stand früher selbst als Boxer bei Wettkämpfen im Ring. Mittlerweile hält er die Pratzen hoch, wenn Kinder und Jugendliche ihre Schläge üben. An Nachwuchs mangelt es nicht.
Jeremy Ring (16 Jahre alt) geht seit mehr als zwei Jahren in Brandenburg an der Havel zum Boxtraining.
Immer mehr Menschen kommen zum Kampfsport
"Es fällt auf, dass in den letzten Wochen, Monaten, Jahren die Mitgliederzahlen ansteigen", sagt Wuttke. "Wir haben seit etwa drei Jahren einen Anstieg zu verzeichnen, vorher waren wir 60 Mitglieder, inzwischen sind wir bei 120 und stoßen eigentlich damit an unsere Grenzen." Immer mehr Menschen kommen zu Wuttke zum Boxtraining. So viele, dass der Boxverein derzeit Aufnahmestopp hat.
Damit ist der Verein in Brandenburg an der Havel nicht allein. In den vergangenen neun Jahren haben sich die Mitgliederzahlen in Brandenburg beim Kickboxen und Boxen fast verdoppelt, zeigt die Mitgliederstatistik des Landessportbundes Brandenburg (Kickboxen 2015: 446; 2024: 1109; Boxen 2015: 1.163; 2024: 1.866). Über alle Kampfsportarten verteilt – also auch inklusive Judo, Karate oder Taekwondo - sind es rund 21 Prozent mehr Vereinsmitglieder als noch 2015 (2015: 14.125, 2024: 17.090). Währenddessen nimmt die Zahl derer, die Ringen als Sport betreiben, laut Landessportbund Brandenburg eher ab.
Auch in Berlin ist die Zahl der Mitglieder in den Landesfachverbänden von Kampfsportarten gestiegen. Verzeichnete der Landessportbund Berlin 2014 noch rund 20.500 Mitglieder, waren es 2024 mittlerweile rund 25.500 Mitglieder. Das ist ein Anstieg von circa 24 Prozent.
Trainer Dirk Wuttke im Amateur-Boxverein BSC Süd 05 in Brandenburg an der Havel.
Kommzielle Angebote nicht erfasst
Eine allgemeingültige Definition von Kampfsport gibt es nicht. Der Landessportbund Berlin zählt dazu asiatische Kampfsportarten wie Aikido, Judo, Ju-Jutsu und Taekwondo genauso wie Boxen, Kick-Boxen und Ringen. Mixed Martial Arts werden bei den Landessportbünden nicht erfasst.
Dazu kommen noch diejenigen, die Kampfsport außerhalb dieser Strukturen betreiben, also zum Beispiel in kommerziellen Angeboten wie Fitness Center. Dazu liegen ebenfalls keine Zahlen vor.
Eine der Motivationen: Sicherheit
Aus welchen Gründen Menschen mit Kampfsport anfangen, wird von den Landessportbünden nicht erfasst. Die Gründe seien vielfältig, sagt Swen Körner. Er ist Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln in der Abteilung für Trainingspädagogik und Martial Research, also Kampf(sport)forschung.
"Das sind vor allem Motive wie Fitness und Gesundheit, die für die Leute generell attraktiv sind", sagt Körner. Aber auch soziale Kontakte, die beim Sport geknüpft werden, würden eine immer größere Rolle spielen.
Zum Boxverein von Wuttke kommen allerdings auch immer mehr Kinder und Jugendliche, die das Boxen lernen wollen, um sich verteidigen zu können: "Ich habe in der Woche mehrere Anrufe von Eltern, die ihre Kinder jetzt fit für die Straße machen wollen", erzählt der Trainer, “damit sie sich zur Not auch verteidigen können, wenn sie angegriffen werden."
Auch der 16-jährige Jeremy sieht diesen Vorteil am Boxtraining. Jetzt fühle er sich durch das Boxen stärker, selbstbewusster - auch in der Schule. "Ich gehe besser durchs Leben", sagt er. "Ich fühle mich sicherer, weil ich weiß, dass ich nicht komplett zusammengeschlagen werden würde."
Swen Körner ist Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln am Institut für Vermittlungskompetenz in den Sportarten, Abteilung für Trainingspädagogik und Martial Research.
Kampfsport ist nicht dasselbe wie Selbstverteidigung
Kampfsportwissenschaftler Swen Körner betont dagegen: Es sei wichtig, Kampfsport und Selbstverteidigung voneinander zu unterscheiden. Während es beim Kampfsport feste Regeln gebe und man sich wie bei anderen Leistungssportarten auch auf Wettkämpfe vorbereiten könne, gehe es bei Selbstverteidigung darum, praktische Handgriffe und Verhaltensweisen für gefährliche Situationen zu erlernen.
"Wer gut treten kann, kann sich vielleicht auch gut verteidigen, aber wer etwas lernen möchte, um sich zu verteidigen, dem würde ich keinen Kampfsport empfehlen", so Körner. Auch wenn einige Kampfsportarten Selbstverteidigungselemente enthielten, biete Selbstverteidigung Lösungen an, die ganz unterschiedlich seien, zu dem, was im Kampfsporttraining gemacht werde. Krav Maga sei beispielsweise ein Selbstverteidigungssystem, das gut und einfach zu erlernen ist.
Beim Kampfsport lernt man, sich an Regeln zu halten
Boxtrainer Dirk Wuttke betont, dass Boxen in erster Linie ein Sport sei, der fit mache, der das Selbstbewusstsein und das Gemeinschaftsgefühl stärke. Er wisse aber auch, dass Jugendliche durch das Boxtraining in Gefahrensituationen besonders hart zuschlagen könnten.
"Wir versuchen zu sagen: 'Leute, passt auf, hier im Training kann man Boxen und hinterher geben wir uns wieder die Hand und gehen als Freunde auseinander'", erklärt Wuttke. Gleichzeitig könne man den Kindern auf der Straße nicht hinterherlaufen, da seien auch Eltern und Schule in der Pflicht.
Entgegen vielen Vorurteilen mache Kampfsport die Sportler:innen nicht unbedingt aggressiver, betont Swen Körner. "Genau das Gegenteil ist der Fall." Bei Sportarten wie Judo, Karate oder Taekwondo gebe es beispielsweise bestimmte Regeln. "Das sind hochritualisierte Trainings, in denen man lernt, sich an Regeln zu halten, wo man lernt, gut mit den Partnern umzugehen." So lerne man beispielsweise auch, "unmittelbare Triebe" stärker zu kontrollieren.
Das hat auch bei Jeremy funktioniert. Er habe gemerkt, dass er nun beherrschter sei, erzählt er. "Ich schlage nicht sofort zurück, gehe dem Streit meistens aus dem Weg. Und wirklich zurückschlagen tu ich nicht." Denn wie bei anderen Kampfsportarten hat Jeremy auch beim Boxen gelernt: "Man sollte nie Gewalt anwenden, außer es ist dringend nötig."
Sendung: rbb24 Abendschau, 16.12.2024, 19:30 Uhr