Das KZ Oranienburg bei Berlin war auf dem Gelände einer ehemaligen Brauerei eines der ersten Konzentrationslager in Deutschland für Gegner des Hitler-Regimes. (Quelle: dpa/Scherl)

Brandenburg Berlin Holocaust-Gedenktag: Wie aus Verfolgung Vernichtung wurde und wo es sich abspielte

Stand: 26.01.2025 11:30 Uhr

Millionen Menschen wurden während der NS-Zeit systematisch ermordet. Die Verfolgung begann schon lange vor dem Krieg. Wie aus alltäglicher Gewalt nach und nach ein System von industrieller Vernichtung wurde. Von Oliver Noffke

Vor 80 Jahren, am 27. Januar 1945, befreite die Rote Armee Auschwitz. Ein Komplex aus Konzentrationslagern, Industrieanlagen und Vernichtungsstätten südwestlich von Krakau. Laut dem Bundesarchiv [bundesarchiv.de] wurden allein dort rund 1,1 Millionen Menschen ermordet. Andere Quellen gehen davon aus, dass es weitaus mehr gewesen sein müssen.

Hunderttausende Juden, vor allem aus Osteuropa, wurden nach Auschwitz gebracht, sowie Zehntausende Polen, Sinti und Roma, Kriegsgefangene aus der Sowjetunion und viele andere. Mehr als 230.000 Kinder und Jugendliche waren unter den Deportierten [auschwitz.org].

Personen gehen in der Gedenkstätte Sachsenhausen über das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers (Quelle: DPA/Fabian Sommer)
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Den sowjetischen Soldaten bot sich ein apokalyptisches Bild. Aufnahmen vom Tag der Befreiung zeigen Plätze, übersät mit ausgemergelten Leichen, und Baracken, in denen dahinsiechende Menschen auf den Tod warteten. Zu schwach und krank, um auf einen der Todesmärsche gezwungen zu werden, mit denen das nationalsozialistische Regime versuchte, die Lager wenige Tage zuvor leerzuräumen [dhm.de].

Um die 3.000 Gewaltorte in Berlin

Auschwitz gilt weltweit als Symbol für den Holocaust. Doch es war nur ein Teilbild des Grauens. Das finale Stadium. Verfolgung, Folter und Mord begannen weitaus früher. Bereits vor der Machtergreifung am 30. Januar 1933 seien die Anfänge zu finden, sagt Christoph Kreutzmüller. Der Historiker ist Vorstandsvorsitzender des Aktiven Museums [aktives.museum.de], das sich mit der Aufarbeitung von Faschismus und Widerstand in Berlin beschäftigt [aktives-museum.de]. Kreutzmüller ist Co-Autor des Buchs "Berlin im Nationalsozialismus", dass aufzeigt, welche Orte bei der Verfolgung eine Rolle spielten.
 
"Die Nationalsozialisten haben die Straße schon vorher zum Gewaltraum gemacht", sagt Kreutzmüller. "In Berlin fing das Ende 1931 an. Die Zeitungen beschreiben damals fast sowas wie einen Bürgerkrieg." Zum Ziel der Sturmabteilung der NSDAP, dem Schlägertrupp der Nazipartei, werden anfangs insbesondere politische Veranstaltungen. "Die Nationalsozialisten stürmen das, schlagen die Leute zusammen und rufen dann anschließend nach Ruhe und Ordnung."

Ab Februar 1933 fallen die Hemmungen endgültig. In Nohra bei Weimar wird das erste Konzentrationslager errichtet [mdr.de]. Parallel entstehen auch in Berlin erste "Gewaltorte", so Kreutzmüller. SA-Kneipen oder Tanzlokale, Lagerschuppen, nicht mehr benutzte Kasernen oder leerstehende Fabriken. Allein in Berlin sind etwa 200 frühe KZ dokumentiert, sagt Kreutzmüller, sowie dann im Krieg um die 3.000 Zwangsarbeitslager. Mitten in Wohngebieten, neben Arbeitsstätten oder in Kleingartenanlagen. "Ein Teil der Wirkung, die das entfacht, ist, dass eine Atmosphäre der Angst geschaffen wird. Es gibt keine Rechtssicherheit mehr."
 
Eines der ersten Konzentrationslager in Berlin wird am Wasserturm auf dem Prenzlauer Berg eingerichtet. "Im Maschinenraum werden Leute eingesperrt, zwei, drei Tage misshandelt und anschließend mit einem Fußtritt auf die Straße befördert oder zum Teil woanders hingebracht", sagt Kreutzmüller. "Auch Reichstagsabgeordnete werden dahin verschleppt."

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Hindenburg, Nürnberg, Olympia

Aus der wahllosen Gewalt wird nach und nach ein System von industriellem Ausmaß. Kontinuierlich wird die Verfolgung professionalisiert. Einige Ereignisse verpassen dem Ausbau der Mordmaschinerie zusätzlichen Schub.
 
"Diese erste Phase endete mit dem 2. August 1934, dem Tod von Reichspräsident Hindenburg", sagt Andrea Riedle, Direktorin der Stiftung Topographie des Terrors. Nach der Ausschaltung von parteiinternen Gegnern insbesondere der mächtigen SA-Führung um Ernst Röhm Ende Juni, Anfang Juli 1934 wurde Hitler nach dem Tod von Hindenburg auch Staatsoberhaupt. "18 Monate nach der Machtübernahme hatten die Nationalsozialisten damit die Macht endgültig konsolidiert."

Insbesondere Kommunisten, Sozialisten und Gewerkschafter werden zu diesem Zeitpunkt verfolgt. "Mit der 'Reichstagsbrandverordnung‘ [bpb.de] wurden nicht nur die Grundrechte wie Meinungs-, Versammlung und Pressefreiheit außer Kraft gesetzt, sondern auch die rechtliche Basis für die 'Schutzhaft' geschaffen. Dieses Instrument ermöglichte es den Nationalsozialisten, Menschen ohne jeglichen richterlichen Beschluss zu inhaftieren", so Riedle.
 
Die Bevölkerung konnte sich teilweise selbst ein Bild davon machen, was das bedeutete. "Diese frühen KZ waren relativ offen. In Oranienburg konnten Passanten beispielsweise einfach in das Lager hineinschauen", sagt sie. Goebbels' Propaganda-Maschinerie versuchte die Lager selbst mit Radio- oder Filmbeiträgen zu legitimieren. "Von Folter und Gewalt war da natürlich nicht die Rede. Das wurde als wichtige Erziehungsmaßnahme dargestellt."

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Das Vorgehen ist brutal und gründlich. Im Sommer 1933 waren rund 8.000 Menschen in den ersten, relativ kleinen Konzentrationslagern inhaftiert, sagt Riedle. Zwei Jahre später waren es nicht einmal mehr halb so viele. "Zu diesem Zeitpunkt galt dieses 'Problem' sozusagen als gelöst. Und es kamen Diskussionen auf, ob man die Konzentrationslager überhaupt noch braucht." 1936 waren die politischen Gegner weitestgehend ausgeschaltet.
 
Doch so kommt es nicht. Im September 1935 beschließt die NSDAP auf ihrem Parteitag, was als "Nürnberger Rassegesetze" in die Geschichte eingeht. Das Verhältnis zwischen Deutschen, die nun in "Nichtarier" und "Volksgenossen" [bpb.de] unterschieden werden, ändert sich damit grundsätzlich.

Im Sommer darauf, während in Berlin die olympische Flamme brennt, ist die Ausgrenzung und Verfolgung in vollem Gange. Das Ziel der Nationalsozialisten ist, den Druck zu erhöhen, um die deutschen Juden zur Ausreise zu zwingen. Etwa zur gleichen Zeit wird der Ausbau einiger Konzentrationslager vorbereitet, andere entstehen am Reißbrett. Im Sommer 1936 wird das KZ Sachsenhausen errichtet. Im Jahr darauf wird das KZ Dachau massiv ausgebaut, auf einem Hügel in Sichtweite von Weimar entsteht das KZ Buchenwald, das Frauen KZ-Ravensbrück wird ab 1938 errichtet, dem Jahr der Novemberpogrome.
 
Diese Lager dienen meist der Zwangsarbeit. In Dachau und Buchenwald schuften sich die Häftlinge etwa in Steinbrüchen zu Tode, bei Sachsenhausen werden unter unmenschlichen Zuständen Ziegel gebrannt. Nicht nur auf dem Gelände der Lager wird unter Zwang gearbeitet, sondern auch um sie herum. Im Straßenbau oder in Fabriken, in denen Rüstung und Material für den Krieg vorgefertigt wird.

"Eigentlich sind das gar keine Lager"

Für viele führende Köpfe im NS-Regime ist das nicht genug. Am 20. Januar 1942 wird in Potsdam auf der sogenannten Wannseekonferenz die Auslöschung der europäischen Juden beschlossen. Doch tatsächlich war diese bereits seit Wochen im Gange. In Kulmhof nahe Dabie im besetzten Polen wird erstmals ein Lager zum systematischen, massenhaften Morden genutzt. Wenig später entsteht mit Treblinka, Sobibor, Belzec, Majdanek und Auschwitz-Birkenau (Auschwitz II) ein völlig neuer Typus an Gewaltort. "Eigentlich sind das gar keine Lager, sondern Vernichtungsstätten", sagt Christoph Kreutzmüller. "Das waren Orte, an denen möglichst viele Menschen möglichst schnell umgebracht werden konnten. Wir nennen sie Vernichtungslager, aber es gab nur ganz wenige Menschen, die dort gelebt haben. Die meisten, die da ankamen, sind zwei, drei Stunden später brutal erstickt worden."

"Mutti, wir haben überlebt"
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Mit diesen auf Effizienz getrimmten Todesfabriken entzieht sich das Morden den Blicken der Bevölkerung. "Man hat eher versucht das im Verborgenen zu halten", sagt Andrea Riedle. "Aber das war natürlich gar nicht zu verbergen." Am 1943 hatte sich in der Bevölkerung herumgesprochen, was in den besetzten Gebieten im Osten vor sich ging, sagt sie. "Wenn später gesagt worden ist, 'wir haben das nicht gewusst', kann man das so nicht stehen lassen." Durch Flugblätter und über Radiowellen haben Amerikaner und Briten Berichte an die deutsche Bevölkerung gerichtet.
 
Nach dem Krieg, als der Mord an sechs Millionen Juden, einer halben Million Sinti und Roma [bpb.de] und Hunderttausenden Menschen - mit Behinderung oder homosexueller Orientierung, politischen Gegnern und anderen - nicht mehr zu verbergen war, waren viele Deutsche an Aufklärung nicht interessiert, sagt Riedle. "Es gibt Unterlagen, die auf November 1945 datiert sind, in denen bereits gefordert wird, man solle doch aufhören, sich mit dieser Geschichte zu beschäftigen. Ein halbes Jahr nach Kriegsende war also bereits die Rede von einem Schlussstrich."

Sendung: rbb24 Brandenburg aktuell, 27.01.2025, 19:30 Uhr