Bremen Bremerin erzählt über 35 Jahre Mauerfall: "Herz in zwei Teile teilen"
Joachim Gaucks Tochter, Gesine Lange, spricht über 35 Jahre Mauerfall. Die Bremerin erinnert sich an die Trennung von der Familie und ihr neues Leben.
Frau Lange, welches ist ihr erstes Gefühl, wenn Sie heute an den Mauerfall vor 35 Jahren denken?
Für mich ist das ein wunderbarer Tag gewesen, ein großes Glück, ein Wunder und auch ein Geschenk. Für mich war es befreiend. Alles was uns gebunden hat, wo wir keine Träume haben durften und Angst haben mussten – das hat geendet.
Es gab keine Mauer mehr zwischen Familienangehörigen und Freunden. Wir konnten uns endlich wieder so sehen, wie wir das wollten. Ich bin immer wieder berührt, wenn ich daran denke.
Gesine Lange (geborene Gauck), geboren 1967 in Rostock, gelernte Kinderdiakonin, verließ im Juni 1989 ihre Heimat Rostock und kam nach Bremen. Heute leitet sie den Spielkreis in der Gemeinde St. Martini Bremen Lesum.
Sie sind als Pfarrerstochter von Joachim Gauck aufgewachsen. Mit welchen Herausforderungen waren sie zu DDR-Zeiten konfrontiert?
Man wusste, dass einem Grenzen gesteckt wurden. Beim Studium, bei der Reise ins Ausland und all diesen Dingen. Wir mussten uns früh entscheiden, offen dafür einzustehen, dass wir Christen sind, dass wir nicht in diese staatlichen Organisationen und Parteien eintreten.
Dann mussten wir aber auch damit rechnen, dass der berufliche Werdegang anders verlaufen wird. Davon können alle, die damals in der Kirche waren, ein Lied singen.
Gab es trotzdem auch einen Anteil in Ihnen, der zum Beispiel davon geträumt hat, Psychologie zu studieren?
Das gab es schon. Aber in der DDR hat man ziemlich schnell gelernt, dass es Träume gibt, die schmerzhaft sind, wenn man sie träumt. Ich hatte Ideen wie Archäologie zu studieren. Aber davon zu träumen, habe ich mir schnell verboten.
Ich muss an dem Ort, an dem mein Platz ist, Gutes tun.
(Gesine Lange)
In der kirchlichen Jugendfreizeit haben sie Mitte der 80er-Jahre einen jungen Bremer kennen- und lieben gelernt. Sie haben geheiratet und dann im Juni 1989 ihr gemeinsames Leben in Bremen begonnen. Wie hat es geklappt, dass Sie ausreisen konnten?
Eigentlich wollte ich am Anfang überhaupt nicht in den Westen gehen. Mein Herz hat von Freiheit geträumt, ich dachte aber: Ich muss an dem Ort, an dem mein Platz ist, Gutes tun. Nun kam aber die Liebe dazwischen. Es war unrealistisch gewesen, im Osten zu bleiben. Ich habe einen Ausreiseantrag gestellt.
Die standesamtliche Hochzeit musste auch in Rostock stattfinden. Sie brauchten das als Beweis, sonst hätten sie mich nicht gehen lassen. Erst danach konnte ich einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen und nach Bremen gehen. Hier haben wir dann auch kirchlich geheiratet.
Wie ging es Ihnen damit, Rostock und ihre Familie zu verlassen?
Mir fiel es sehr schwer. Es ist echt eine Quälerei, sich zu fragen: Bleibe ich oder gehe ich? Darüber muss heute kein Mensch mehr nachdenken. Wenn man es schafft, sein Herz in zwei Teile zu teilen, dann kriegt man das hin. Es geht nicht unbeschadet, denn es tut weh. Deswegen bin ich echt froh, dass der Mauerfall mich von dem Fluch erlöst hat.
Wie waren Ihre ersten Eindrücke von Ihrem neuen Leben in Bremen?
Ich bin schon sehr frei und eher westlich aufgewachsen. Das hat mir geholfen, in Bremen leichter anzukommen. Was mir aufgefallen ist: Es war sauberer und viel farbiger. Ich weiß noch, dass ich einen Laden wieder verlassen musste, weil ich es nicht ausgehalten habe.
Meine Augen waren so viel Farbe nicht gewöhnt.
(Gesine Lange)
Genauso ging es mir auf dem Bremer Markt: das Angebot, die Fülle und Farbenpracht konnte ich am Anfang nicht begreifen.
Joachim Gauck zählt als ein wichtiger Pfarrer und Sprecher der friedlichen Revolution im Rostocker Raum. Wie war es für Sie, dass Sie die Predigten Ihres Vaters und Demonstrationen zu Hause nicht mehr miterleben konnten?
Ich wäre gerne dabei gewesen. Trotzdem hatten wir in den Kirchen auch schon Jahre zuvor, offen über all die Themen gesprochen. Ich war es also gewohnt, die Inhalte zu hören, darüber zu diskutieren. All das prägt mich bis heute. Ich habe leider den Höhepunkt all dessen verpasst. Ich war trotzdem im engen Austausch mit meiner Familie. Und über das Fernsehen und Radio konnte man auch erfahren, was vor Ort vor sich geht.
Was haben Sie gemacht, als dann die Grenzen offen waren?
Als die Mauer fiel, sind wir direkt nach Hause gefahren, allen Autos entgegen, zu meiner Familie. Es war so spannend zu erleben, wie alle gejubelt haben, Kekse und Bananen verteilt wurden und alle ein Lächeln im Gesicht hatten.
Auch heute gibt es immer wieder Konflikte zum Thema Ost-West-Vergleiche, ob privat oder in der Öffentlichkeit. Was macht das mit Ihnen?
Es macht mich traurig. Manchmal macht es mich auch ärgerlich. Ich finde, wir haben besondere Dinge geschafft und das sollte uns motivieren und zusammenbringen. Im Osten haben viele Menschen ein schlechtes Bild vom Westen. Ich finde das sehr traurig.
In all den Jahren in Bremen wurde ich hier niemals als Ossi betitelt.
(Gesine Lange)
Das Interesse an meiner alten Heimat ist groß, das gefällt mir gut. Doch obwohl die Mauer eigentlich weg ist, wird sie von einigen in den Köpfen wieder aufgestellt. Ich finde, die Menschen, die das anders sehen und für die Demokratie einstehen, müssen lauter werden und sich dem entgegenstellen. Ich wünsche mir, dass wir offen aufeinander zugehen, einander zuhören, uns gegenseitig respektieren und das als Chance sehen, was wir heute an Möglichkeiten haben.
Dieses Thema im Programm:
Bremen Eins, Rundschau am Mittag, 8. November 2024, 12 Uhr