Nordrhein-Westfalen Falsch verdächtigt: Wie der Justizminister den Datenschutz ausbremst
Wer einmal von der Polizei einer Straftat verdächtigt wurde, bleibt oft lange in den Akten gespeichert. Warum ist das so?
Die Geschichte beginnt in einer mittelgroßen Stadt in Nordrhein-Westfalen. Ein Beschäftigter im Öffentlichen Nahverkehr muss beruflich mehrfach die Polizei rufen: Mal randalieren Fahrgäste, mal gibt es einen unverschuldeten Unfall. Und jedes Mal beobachtet er, wie sich das Verhalten der zunächst freundlichen und hilfsbereiten Polizisten schlagartig ändert: Nachdem sie mit ihren Diensthandys die Personalien der Beteiligten überprüft haben, reagieren sie plötzlich äußerst abweisend und unfreundlich.
Diese Erlebnisse belasten den Mann schwer. Erst allmählich dämmert ihm, dass es einen Zusammenhang mit mehreren Strafverfahren geben könnte, in denen er als Tatverdächtiger geführt wurde. Doch in keinem Fall erhärtete sich der Verdacht gegen ihn. Es gab keine Verhandlung vor Gericht, alle Verfahren wurden eingestellt.
Verdacht wurde nicht gelöscht
Weil der Mann aber wissen wollte, ob noch etwas über ihn gespeichert ist, wendet er sich an die Landesbeauftragte für den Datenschutz, die in solchen Fällen Aufklärung verlangen kann. Die Überprüfung ergibt: Da steht tatsächlich noch etwas. Dabei hätten die Daten über die alten Ermittlungen längst gelöscht werden müssen. Erst nach Intervention der Datenschützer werden die Datenbanken der Polizei bereinigt.
Über solche plötzlichen Verhaltensänderungen von Polizeikräften weiß auch der Düsseldorfer Anwalt Jasper Prigge zu berichten. Viele seiner Mandanten hätten Sätze gehört wie "Sie haben ja einiges auf dem Kerbholz" oder "Sie kennen sich ja schon mit der Polizei aus". Verlangt er dann Akteneinsicht, was auch Anwälte können, stößt Prigge regelmäßig auf "Anzeigen ohne Substanz", wie er es nennt: Bei einem Nachbarschaftsstreit hat jemand erbost Anzeige bei der Polizei erstattet, bei Trennungen wird der Ex-Partner angezeigt.
Der Verdacht lebt weiter, wenn er nicht gelöscht wird.
Leitet die Staatsanwaltschaft daraufhin ein Ermittlungsverfahren ein, wird man als Verdächtiger in einem Strafverfahren gespeichert. Wenn später die Ermittlungen eingestellt werden, weil sich der anfängliche Verdacht nicht erhärtet hat und wenn dann niemand die Löschung veranlasst, existiert der Verdacht weiter, auch wenn er längst ausgeräumt wurde.
Auf ihren Diensthandys sehen die Polizisten nur eine "Grobinformation", glaubt Anwalt Prigge. Je nach spontaner Einschätzung der Gefährlichkeit des Menschen, den sie vor sich haben, kann es für diesen ziemlich unangenehm werden. Was die Polizisten in der Situation nicht wissen: Viele Daten sind veraltet. Dass sie nach Einstellung der Strafverfahren nicht gelöscht wurden, verstößt gegen ein halbes Dutzend Gesetze, darunter das Grundgesetz und europäisches Recht.
Schwerwiegende Konsequenzen für Betroffene
"Wir wissen, dass einiges schiefläuft", sagt die Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit in NRW, Bettina Gayk. Vor einigen Jahren überprüfte sie die Staatsanwaltschaft in Düsseldorf, ob dort die sogenannten Löschfristen eingehalten werden. Das Problem, sagt Gayk, seien nicht die Akten der Staatsanwaltschaften. Denn darin sei klar erkennbar, wie ein Strafverfahren ausgegangen ist. Der neuralgische Punkt ist die Informationsweitergabe an die Polizei. Gibt die Staatsanwaltschaft nicht weiter, dass ein Verfahren eingestellt oder ein Angeklagter freigesprochen wurde, gelten diese Personen in den Polizeiakten weiter als Beschuldigte.
Für die Betroffenen kann das gravierende Konsequenzen haben - und dabei geht es nicht nur um die "härtere Gangart" bei Polizeikontrollen. Wenn sich jemand zum Beispiel für einen Job im Sicherheitsbereich des Flughafens bewirbt, werden standardmäßig Einträge in den Polizeiakten nachgefragt. Sind dort längst überholte Verdächtigungen gespeichert, ist es fraglich, ob der Bewerber den Job bekommt. Ähnlich könnte es etwa einem Gewerbetreibenden gehen, der bei einem großen Fußballturnier in einem Stadion tätig werden will. Wegen nicht gelöschter Einträge in den Polizeiakten bekäme er wohl keine Akkreditierung.
"Wir haben festgestellt, dass fast täglich etwas falsch gemacht wird", berichtet Datenschützerin Gayk. Damit würden Daten rechtswidrig und zu lange gespeichert. Doch seit einer Überprüfung der Staatsanwaltschaft in Düsseldorf im Jahr 2020 konnte sie keine weitere Anklagebehörde mehr unter die Lupe nehmen. Die Staatsanwaltschaft in Arnsberg, die sie als nächste kontrollieren wollte, erklärte die Datenschützer aus Düsseldorf kurzerhand für nicht zuständig.
Dieser Auffassung, so Gayk, hätten sich sowohl die drei Generalstaatsanwaltschaften als auch das Justizministerium angeschlossen.
Seither stehen Gayk und ihre Leute vor verschlossenen Türen.
Minister Benjamin Limbach (Grüne) erklärte am Mittwoch im Rechtsausschuss des Landtags, sein Haus wäge sowohl die Interessen der Datenschutzbeauftragten als auch die Interessen von Opfern oder Zeugen in Strafverfahren ab. Strafakten, etwa über Sexualstraftaten gegen Kinder, enthielten sehr sensible Informationen, die nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich gemacht werden dürften.
Kurz gesagt: Der Justizminister und die Staatsanwaltschaften schützen sensible Daten vor den Augen der Datenschutzbeauftragten.
Massive und dauerhafte Grundrechtsverletzungen
Der frühere Datenschutzbeauftragte von Schleswig Holstein, Thilo Weichert, hält das schlicht für einen Skandal. Weichert arbeitet als Pensionär für den Verein "Digitalcourage" aus Bielefeld, der jedes Jahr den Big Brother Award vergibt. Der Vorsitzende des Rechtsausschusses im Landtag, Werner Pfeil (FDP), kennt das Problem.
Im vergangenen Jahr ergab eine Anhörung von Rechtsexperten im Landtag: Es gebe dringenden Handlungsbedarf hinsichtlich der Datenlöschung aus Ermittlungsakten. Die unzureichende Bereinigung und Berichtigung führe zu massiven und dauerhaften Grundrechtsverletzungen, insbesondere durch falsche Verdachtsmomente. Gemeint ist das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.
Dass die Kontrollkompetenz der Landesdatenschutzbeauftragten bezweifelt wird, darf nach Ansicht von Pfeil nicht passieren. Für ihn ist glasklar, dass Gayk und ihre Leute auch die Staatsanwaltschaften überprüfen dürfen - auch wenn es denen nicht passt.
Werner Pfeil, Vorsitzender des Rechtsausschusses im Landtag
Minister Limbach gab im Rechtsausschuss zu Protokoll, die Angelegenheit werde noch einmal geprüft. Die Entscheidung soll am 20. Januar verkündet werden.
Und wie sehen das Gayks Amtskolleginnen in den anderen Bundesländern? "Mit solchen Problemen, wie ich sie aktuell habe, sehen sich andere Datenschutzbehörden nicht konfrontiert", erklärt Gayk.
Unsere Quellen:
- Interview mit der Datenschutzbeauftragten Bettina Gayk
- Interview mit Rechtanwalt Jasper Prigge
- Interview mit Thilo Weichert, Verein Digitalcourage
- Interview mit Werner Pfeil, FDP
- Stellungnahmen der Expertenanhörung im NRW-Landtag
Über das Thema berichtet der WDR am 11.12.2024 u.a. im Westblick auf WDR5 und in der Aktuellen Stunde im WDR Fernsehen.