NRW-Wahl Warum die Beteiligung historisch niedrig war
Am Sonntag haben nur 55,5 Prozent der Wahlberechtigten in Nordrhein-Westfalen ihre Stimme abgegeben. 2017 hatte die Beteiligung noch fast zehn Prozentpunkte höher gelesen. Woran liegt das?
Bei Temperaturen um die 27 Grad ließen sich am vergangenen Sonntag viele Menschen in Nordrhein-Westfalen die Sonne auf den Bauch scheinen. Den Weg in die Wahlkabine fanden hingegen so wenige Bürgerinnen und Bürger wie noch nie in der Geschichte des Bundeslandes. Biergarten statt Stimmabgabe also? So einfach sei es nicht, sagt Julia Schwanholz von der Universität Duisburg-Essen. Den Faktor Wetter hält die Politikwissenschaftlerin für "überinterpretiert".
Kandidaten wenig unterscheidbar?
Viel bedeutender sei etwa, dass die beiden Spitzenkandidaten und ihre Parteien in der Wahrnehmung vieler Wähler nicht gut unterscheidbar gewesen seien. Eigentlich trage ein Kopf-an-Kopf-Rennen, wie es sich in den Umfragen vor der Wahl zwischen Hendrik Wüst (CDU) und Thomas Kutschaty (SPD) abgezeichnet hatte, zu einer höheren Wahlbeteiligung bei, so Schwanholz. Allerdings habe es - beispielsweise im TV-Duell - wenig inhaltliche Abgrenzung zwischen den Spitzenkandidaten gegeben, sagt die Politikwissenschaftlerin, die selbst aktives SPD-Mitglied ist. Daher habe es für viele Wahlberechtigte keine große Rolle gespielt, wer die Wahl gewinnt.
Viele Nichtwähler wählten bislang SPD
Erste Analysen zur Wahl zeigen, dass vor allem frühere SPD-Wähler diesmal nicht wählen gegangen sind. Im Vergleich zur letzten Landtagswahl verloren die Sozialdemokraten 390.000 Stimmen an das Lager der Nichtwähler - so viele wie keine andere Partei. "Wir sind in der Mobilisierung nicht gut genug gewesen", gibt SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert zu. Gemessen am jeweiligen Stimmenanteil verloren auch die AfD und die FDP viele Wähler an das Nichtwähler-Lager. Bei der AfD waren es 180.000 und bei der FDP 140.000 frühere Wähler.
Mobilisierung und Gegen-Mobilisierung durch AfD 2017
Von der AfD wanderten damit mehr ehemalige Wähler in die Gruppe der Nichtwähler ab als zu allen anderen Parteien zusammen. Bei der Landtagswahl vor fünf Jahren habe die AfD noch viele Protestwähler erreicht, so Politikwissenschaftlerin Schwanholz. Diese hätten sich jetzt wieder von der Partei abgewandt. Übrig geblieben sei nur der harte Kern der AfD-Anhänger.
Der Blick auf die AfD bietet eine mögliche Erklärung dafür, warum die Wahlbeteiligung im Vergleich zur vergangenen Landtagswahl um fast zehn Prozentpunkte gesunken ist. 2017 habe durch die AfD eine "Mobilisierung und eine Gegen-Mobilisierung" stattgefunden, sagt Robert Vehrkamp, Demokratieforscher bei der Bertelsmann Stiftung. Die AfD habe es damals geschafft, viele Nichtwähler an die Urne zu bringen. Gleichzeitig habe die Aussicht auf ein starkes Abschneiden der Partei aber auch viele andere Menschen mobilisiert, die einen Erfolg der AfD verhindern wollten und nur deshalb zur Wahl gegangen seien. Nach Einschätzung von Vehrkamp habe dieser Mobilisierungseffekt durch die AfD den generellen Trend hin zu sinkender Wahlbeteiligung nur kurzzeitig unterbrochen.
Wahlbeteiligung von nur 38 Prozent
Auffällig sind die starken regionalen Unterschiede bei der Wahlbeteiligung. Während in Münster deutlich mehr als 65 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben haben, waren es im Wahlkreis Duisburg III gerade mal 38,1 Prozent. Ein Grund dafür sei der "enorm hohe Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund" in dem Wahlkreis, so die Duisburger Politikwissenschaftlerin Schwanholz. Einige von ihnen überfordere die Wahl nicht zuletzt in sprachlicher Hinsicht. Wahlprogramme und Wahlbenachrichtigungen würden nur teilweise übersetzt, bemängelt Schwanholz.
Bildung als Schlüssel zu mehr Wahlbeteiligung
Bei der Frage, ob Menschen zur Wahl gehen oder nicht, gilt der Bildungsgrad als zentraler Einflussfaktor. "Sozial prekäre Milieus wählen fast gar nicht mehr", sagt Bertelsmann-Forscher Vehrkamp, "die repräsentative Demokratie wird immer weniger repräsentativ." Für die Parteien bringe das die Versuchung mit sich, verstärkt Politik für ihre eigenen Wählermilieus zu machen, etwa ältere Menschen im Fall der CDU oder akademisch gebildete Großstädter im Fall der Grünen.
Aus Sicht von Vehrkamp kann eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre zu besserer politischer Bildung beitragen. Dadurch könnten die Schulen die Erstwahl von jungen Menschen begleiten und so zu einer höheren Wahlbeteiligung beitragen - mit möglicherweise nachhaltigen Effekten: "Wer bei seiner Erstwahl wählt, der wählt in der Regel auch später im Leben", sagt Vehrkamp. Gerade bei jungen Menschen aus Familien, in denen nicht gewählt wird, könne das die Spirale des Nicht-Wählens durchbrechen.