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Interview

100 Jahre Weimarer Verfassung "Man muss die Verfassung verteidigen"

Stand: 06.02.2019 14:33 Uhr

Vor 100 Jahren entstand die Weimarer Verfassung. Auch heute sollten die Bürger immer wieder zeigen, wie sehr sie die Demokratie schätzen, sagte der frühere Bundestagspräsident Thierse.

tagesschau24: Die Weimarer Republik ging nach nicht einmal 14 Jahren unter. Waren Schwachstellen in der Verfassung mitverantwortlich?

Wolfgang Thierse: Ich glaube nicht, dass es so sehr an der Verfassung gelegen hat. Es lag wohl eher daran, dass Eliten die Demokratie nicht unterstützt haben, das Militär, und dass rechts- und linksradikale Kräfte die Demokratie angegriffen haben. Diese Demokratie hatte es schwer nach dem Ersten Weltkrieg, nach dem Versailler Vertrag, angesichts der massenhaften Arbeitslosigkeit und der Weltwirtschaftskrise. Es kamen viele Faktoren zusammen.

Zur Person
Wolfgang Thierse ist in Breslau geboren und in Thüringen aufgewachsen. Bis Ende 1989 war er parteilos. Im Januar 1990 trat er in die SPD ein. Von 1990 bis 1998 war er stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion. Von 1998 bis 2005 war er Präsident des Deutschen Bundestages, von 2005 bis 2013 Vizepräsident.

tagesschau24: Aber sie war eben auch kein Bollwerk gegen die Feinde der Demokratie. Ist das etwas, was eine Verfassung ohnehin nicht sein kann?

Thierse: Man kann jedenfalls lernen, dass man die Verfassung verteidigen und darauf achten muss, dass diese Demokratie nicht ausgenutzt wird, um sie zu überwinden. Es ist die eigentliche Schwäche der Demokratie, dass man diese auf demokratischem Wege überwinden kann. Das ist eine Mahnung auch für heute.

tagesschau24: Was sind die Errungenschaften der Weimarer Verfassung, von denen wir heute noch zehren?

Thierse: Ohne Zweifel war es damals die modernste Verfassung der Welt. Volkssouveränität ist wichtig. Damals haben die Gewerkschaften Rechte bekommen. Mitbestimmung und Betriebsrechte sind möglich geworden. Gleichberechtigung fand sich zum ersten Mal, das Frauenwahlrecht. All das ist gewissermaßen fast umstandslos in unser Grundgesetz übergegangen. Das gilt es nach wie vor zu verteidigen. Auch die Trennung von Kirche und Staat, die Religionsfreiheit, die Meinungs- und Pressefreiheit. All das sind kostbare Güter.

tagesschau24: "Verteidigen" ist ja gerade hochaktuell, denn in aller Welt und sogar bei europäischen Nachbarn wird versucht, Demokratie zurückzudrängen. Es finden sich dafür sogar Mehrheiten bei den Wählern. Woran liegt das?

Thierse: Wir sind in Zeiten dramatischer Umbrüche: die Globalisierung, die digitale Transformation. Wir sind im Zustand einer gewissen Welt-Unordnung. Das erzeugt Ängste und Unsicherheiten und offensichtlich auch das heftige Bedürfnis nach den einfachen schnellen Lösungen, nach den klaren Schuldzuweisungen. Das ist die Zeit der Populisten, vor allem der Rechtspopulisten.

Ich will nicht sagen, dass unsere Demokratie dramatisch gefährdet ist, aber diese Herausforderung müssen wir ernst nehmen und uns immer wieder daran erinnern, dass Demokratie eine Staatsform, eine Herrschaftsform ist, die immer wieder neu gelernt werden muss: ihre Regeln, ihre Institutionen, die Rechte und Pflichten des Einzelnen. Demokratie gibt es nicht ohne Rechtsstaatlichkeit, nicht ohne Gewaltenteilung, sonst wird sie zu einer illiberalen Demokratie, einer Demokratie, die im Grunde die Herrschaft weniger bedeutet.

Die Weimarer Reichsverfassung
Nach der militärischen Niederlage des Ersten Weltkriegs und der Revolution von 1918 entstand die erste parlamentarische Regierung der deutschen Geschichte. Das neue demokratische System der Weimarer Republik fußte auf der Weimarer Reichsverfassung, die am 31. Juli 1919 von der Nationalversammlung mit überwältigender Mehrheit angenommen wurde. Die Weimarer Verfassung bildete ein tragfähiges Fundament für den Aufbau eines föderalistischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates. Ihre strukturellen Schwächen ermöglichten letztlich jedoch die Nazi-Diktatur.

tagesschau24: Muss man vielleicht wie Sie eine Diktatur selbst erlebt haben, um die Demokratie wieder wert zu schätzen?

Thierse: Ich hoffe nicht. Aber wir könnten begreifen, wenn wir in die Welt schauen, dass unsere Art von liberaler, rechtsstaatlicher, sozialer Demokratie nicht mehr selbstverständlich ist, dass sie fast schon zur Ausnahme wird. Schauen wir in den Osten, nach Russland, in die Türkei, nach China. Selbst in den USA erleben wird, dass auf demokratischem Wege ein gnadenloser Populist an die Macht gekommen ist. Unsere rechtsstaatliche Demokratie wert zu schätzen, dazu muss man nicht aus einer Diktatur kommen. Da reicht der Blick in die Gegenwart.

tagesschau24: Wie stabil ist denn unsere heutige Demokratie in der Bundesrepublik?

Thierse: Ich glaube, wir sind in einer viel besseren Situation als die Weimarer Demokratie. Es gibt eine wirkliche Mehrheit der Demokraten. Unser Institutionengefüge ist stabil. Die Wertschätzung, die das Verfassungsgericht genießt, ist auch ein Garant für die Stabilität unserer Demokratie. Die Mehrzahl der Parteien ist zutiefst demokratisch.

Ich denke, wir leben auch in einer wirtschaftlich deutlich besseren Situation - trotz aller Konflikte, aller Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten. Wir leben in einem wirtschaftlich und damit auch rechtlich und politisch stabileren Land, als es die Weimarer Republik je sein konnte.

tagesschau24: Noch einmal zum Stichwort "Demokratie verteidigen": Wer kann oder soll jungen Menschen vermitteln, dass sie die Demokratie verteidigen sollen? Und mit welchen Mitteln?

Thierse: Erstens ist das sicher eine Aufgabe der politischen Bildung, der Demokratieerziehung an den Schulen. Es ist auch eine Aufgabe der Medien. Ich wünsche mir auch, dass die Bürger begreifen, dass es ihre Aufgabe ist, diese rechtsstaatliche Demokratie ernst zu nehmen und zu verteidigen und das nicht auf die Politiker oder Justiz zu schieben. Die demokratischen Bürger sind es, die immer wieder zeigen sollen, wie sehr sie die Demokratie als die politische Lebensform der Freiheit schätzen und verteidigen.

Das Interview führte Gerrit Derkowski, tagesschau24.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 06. Februar 2019 um 11:00 Uhr.