Gerichtsbeschluss Hunderte Contergan-Fälle rechtswidrig entschieden?
Seit 2009 haben fast 1000 Menschen eine Entschädigung wegen mutmaßlicher Contergan-Schäden beantragt, meist erfolglos. Nun könnte sich nach Recherchen von NDR, WDR und SZ das Blatt für die Betroffenen wenden.
Manchmal, so sagt Petra Wassmann, brauche sie eben Hilfe - wenn sie etwa eine Flasche aufschrauben oder etwas hochheben wolle. Denn ihr fehlen beide Daumen. Außerdem ist ihr linker Arm verkürzt, "circa 20 Zentimeter", sagt Wassmann. "Und ich bin halt immer schief. Die Wirbelsäule ist verdreht, die Schulter weiter runter, die linke Schulter ist auch nicht richtig ausgebildet."
Lange Zeit hinterfragte sie nicht, ob es womöglich eine Ursache für ihre Probleme geben könnte. Doch als im Lauf der Jahre die Schmerzen zunahmen, suchte sie einen spezialisierten Arzt auf. Er erklärte ihr, dass die Fehlbildungen wahrscheinlich auf eine Contergan-Einnahme zurückzuführen seien. Ihre Mutter hatte ihr gesagt, dass sie in der Schwangerschaft das Mittel einmal genommen habe.
Contergan - der Name des Medikaments steht für einen der größten Medizin-Skandale in Deutschland. Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre kamen Tausende Babys mit schweren Fehlbildungen zur Welt, viele starben. Ihre Mütter hatten während der Schwangerschaft das Schlafmittel Contergan eingenommen, ohne von den fatalen Folgen zu wissen.
1957 kam es als rezeptfreies Medikament auf den Markt. Erste Hinweise, dass der Wirkstoff Thalidomid den heranwachsenden Embryos schwer schaden kann, gab es erst zwei Jahre später. Ende 1961 wurde Contergan vom Markt genommen.
Kampf um Contergan-Rente
Der deutsche Staat versprach später, dass alle Betroffenen entschädigt werden. Dafür wurde eigens eine Stiftung gegründet. Doch bis heute kämpfen viele Menschen darum, eine Contergan-Rente zu erhalten. Einigen war lange Zeit nicht klar, dass das Mittel die Ursache für ihre Fehlbildungen sein könnte - einige Mütter verschwiegen später aus Scham die Contergan-Einnahme oder konnten sich nicht mehr erinnern.
Denn schon die Einnahme einer einzigen Tablette konnte zu den Schädigungen führen. Bei manchen Betroffenen haben sich die Gesundheitsprobleme auch erst im höheren Alter bemerkbar gemacht. Teils sind sie nicht einfach zu erkennen und zu diagnostizieren. Contergan konnte auch zu Schäden an Organen, den Ohren oder den Augen führen.
Wenige Anträge bewilligt
Lange Zeit war es außerdem nicht möglich, Entschädigungen neu zu beantragen. Das geht erst seit 2009 wieder, seit einer entsprechenden Gesetzesänderung. Seitdem haben fast 1000 mutmaßlich Betroffene einen neuen Antrag auf Leistungen durch die Conterganstiftung gestellt. Nur wenigen, etwa 120 von ihnen, wurden sie bewilligt. Viele Anträge wurden mit der Begründung abgelehnt, die Behinderungen der Betroffenen könnten auch andere Ursachen haben, etwa genetische Veränderungen.
Petra Wassmann reichte vor sechs Jahren, im April 2017, einen Antrag bei der Conterganstiftung ein. Im Februar 2020 bekam sie die Antwort. Ihr Antrag wurde abgelehnt. Ihre Fehlbildungen seien "nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit" auf das Medikament zurückzuführen, teilte ihr die Conterganstiftung mit. Sie legte Widerspruch ein und klagte. Dutzende ähnliche Verfahren sind noch anhängig.
Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Münster
Viele der Kläger dürften nun neue Hoffnung schöpfen. Denn möglicherweise hat die Stiftung über viele Jahre die Anträge nicht gesetzeskonform geprüft. Das legt ein aktueller Beschluss des Oberverwaltungsgerichts in Münster nahe, der NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" vorliegt. Daraus geht hervor, dass die Prüfungen "nach derzeitigem Sachstand voraussichtlich (...) nicht den gesetzlichen Anforderungen" genügt haben.
Die Anwältin von Wassmann und weiteren mutmaßlich Contergan-Geschädigten, Karin Buder, sieht sich durch diesen Beschluss bestätigt. Denn im sogenannten Conterganstiftungsgesetz heißt es, dass eine "aus mindestens fünf Mitgliedern bestehende Kommission" die Anträge prüfe. Der Vorsitzende müsse Jurist sein, die anderen Mitglieder medizinische Sachverständige. Die Kommission entscheide darüber, ob ein Contergan-Schadensfall vorliege. In Zweifelsfällen solle sie gutachterliche Stellungnahmen einholen.
Entscheidung allein durch Juristen
Tatsächlich habe nur der Jurist allein entschieden, welche Gutachten eingeholt würden, sagt Karin Buder. Also eine einzelne Person, die zudem kein Mediziner sei. Er entscheidet ihrer Darstellung nach am Ende auch allein auf Basis der Gutachten, ob es sich um einen Conterganschaden handelt. Das Vorgehen widerspreche dem Sinn des Gesetzes, dass mindestens fünf Leute gemeinsam beraten und entscheiden - im Zweifel mithilfe von externen Gutachtern.
Die Contergan-Stiftung widerspricht, dass ihr Vorgehen nicht rechtmäßig sei, bestätigt aber auf Anfrage von NDR, WDR und SZ, dass der Vorsitzende allein darüber entscheide, welchen Sachverständigen innerhalb der Medizinischen Kommission die Anträge zur Prüfung vorgelegt würden. Diese prüften dann, ob mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Contergan-Schaden vorliege. Sollte kein einstimmiges Votum der befassten Sachverständigen erreicht werden, sei das Votum der Mehrheit entscheidend, so die Stiftung. Die erste Instanz, das Verwaltungsgericht Köln, habe dieses Vorgehen erst jüngst noch als korrekt befunden.
Entscheidung wohl bis Ende des Jahres
Nun muss das Oberverwaltungsgericht in Münster klären, welche Auffassung zutrifft. Sollte es "tatsächlich zu dem Ergebnis gelangen, dass die kommissionsinternen Verfahrensabläufe nicht den gesetzlichen Anforderungen (...) genügen, so wird die Conterganstiftung selbstverständlich alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, die das gerichtliche Urteil in der Folge mit sich bringen könnte", teilte die Stiftung mit.
Karin Buder rechnet mit einer Entscheidung bis Ende des Jahres. Sollte das Gericht ihrer Argumentation folgen, würden wohl zumindest alle laufenden Verfahren neu aufgerollt werden müssen. Aber es könnte auch bedeuten, dass Hunderte Fälle aus der Vergangenheit erneut bearbeitet werden müssten.
Denn betroffen wären vermutlich sämtliche Fälle seit 2004. Damals hat die Conterganstiftung das Vorgehen bei Prüfungen entsprechend geändert. Neben den mehr als 800 negativ beschiedenen Neu-Anträgen seit 2009 könnte es auch um Hunderte abgelehnte Revisionsanträge aus den vergangenen 15 Jahren gehen - also um all die Fälle, bei denen Betroffene erfolglos versucht hatten, eine höhere Rente zu erhalten. Insgesamt könnte also in deutlich mehr als 1000 Fällen die Prüfung rechtswidrig verlaufen sein.
Einigkeit über Reformbedarf
Lange Zeit war das mögliche Problem aber offenbar niemandem aufgefallen, auch nicht dem Bundesfamilienministerium, das die Rechtsaufsicht für die Conterganstiftung hat. Auf Anfrage von NDR, WDR und SZ teilte es mit, ihm seien "keine rechtserheblichen Verfahrensfehler" bekannt.
Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Corinna Rüffer beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Conterganstiftung und den Betroffenen. Sie sagt, es gebe schon seit Jahren viele Hinweise darauf, dass das Verfahren nicht richtig laufe. Sie wundere sich darüber, "dass man es trotzdem so hat weiterlaufen lassen". Es gebe aber nun einen Vorstoß aus dem Parlament.
Unter allen demokratischen Parteien herrsche Konsens, dass es einen dringenden Reformbedarf gebe. Gerade mit Blick auf die medizinische Kommission seien die Probleme "ganz offensichtlich". Das Gesetz, das die Arbeit der Stiftung regelt, solle deshalb überarbeitet werden, "im Sinne der Betroffenen". Man wolle damit auch nicht auf das Urteil des zuständigen Gerichts warten.
Was das konkret für die in den vergangenen Jahren abgelehnten Anträge bedeutet, ist noch unklar. Sollten jedoch tatsächlich alle Fälle neu bearbeitet werden müssen, stünde der Stiftung viel Arbeit bevor - und zusätzliche Kosten. Seit 2004 wurden nach Angaben der Conterganstiftung mehr als 4300 Gutachten durch Mitglieder der Medizinischen Kommission erstellt. Die Kosten dafür betrugen etwa 1,4 Millionen Euro.