Menschen nehmen mit Palästina Fahnen an einer Demonstration teil.
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Untersagung von Demonstrationen Weniger als ein Prozent verboten

Stand: 22.11.2024 10:04 Uhr

Angefacht durch die Untersagung von propalästinensischen Kundgebungen reißt die Debatte um das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nicht ab. Eine Datenerhebung von STRG_F liefert nun erstmals umfassende Zahlen zu Demonstrationsverboten.

Von Zita Zengerling und Manuel Biallas, NDR

"Jeder darf demonstrieren, aber die Palästinenser und die Muslime dürfen nie demonstrieren", ruft eine junge Frau in eine Fernsehkamera. Es ist Oktober 2023, nur kurze Zeit nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und den darauffolgenden massiven Luftangriffen auf Gaza. Tausende Menschen sollen zu diesem Zeitpunkt bereits getötet worden sein. Die junge Frau artikuliert ein Gefühl, das in den folgenden Wochen viele Demonstrierende umtreibt: Sie sehen ihre Grundrechte eingeschränkt. 

Dabei stützte sich die Debatte bisher vor allem auf einzelne Fälle. Eine Datenrecherche zum bundesweiten Versammlungsgeschehen zeigt nun, wie viele Demonstrationen tatsächlich verboten wurden, die sogenannten Pro-Palästina-Demos stehen dabei an zweiter Stelle. Mindestens 89 Demonstrationen mit propalästinensischem Hintergrund wurden bundesweit zwischen Oktober 2023 und März 2024 verboten.

An erster Stelle stehen mit 112 verbotenen Versammlungen im untersuchten Zeitraum die sogenannten Bauernproteste. Allerdings gab es bei diesen Verboten einen deutlichen regionalen Schwerpunkt. Allein 103 sprach der Erzgebirgskreis aus. Dem lag eine Allgemeinverfügung zugrunde, um die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch die erwarteten Straßenblockaden der Bauernproteste zu verhindern. Immer wieder hatten Demonstrierende dabei deutschlandweit mit Traktoren zum Beispiel Brücken und Autobahnauffahrten blockiert. 

Weniger als ein Prozent der Kundgebungen verboten

Von den ausgewerteten etwa 31.800 Versammlungsanmeldungen im Zeitraum von Oktober 2023 bis März 2024 wurden den Angaben der Behörden zufolge rund 215 verboten. Das entspricht weniger als einem Prozent der angemeldeten Versammlungen. In der bundesweiten Untersuchung hatte STRG_F rund 450 Behörden im gesamten Bundesgebiet angefragt. Die gewonnenen Erkenntnisse wurden dann Staatsrechtlern zur Einschätzung vorgelegt.

Lediglich in Thüringen, Sachsen und Brandenburg sowie den Stadtstaaten Hamburg und Berlin konnten zentrale Daten zum Versammlungsgeschehen ausgewertet werden. Die übrigen Daten wurden bei den jeweiligen Versammlungsbehörden auf kommunaler Ebene erfragt, wo sie zum Teil nur unvollständig oder gar nicht vorlagen. Damit konnte die Datenerhebung den Großteil aller Versammlungen erfassen, ist aber nicht vollständig. Gar keine Versammlungsverbote gab es im untersuchten Zeitraum den Behörden zufolge in Brandenburg, Thüringen und dem Saarland.

Versammlungsfreiheit Teil der Grundrechte

Die Versammlungsfreiheit gilt in der Bundesrepublik als hohes Gut. Sie ist in Artikel 8 des Grundgesetzes verankert, wonach alle Deutschen das Recht haben, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

Dem Versammlungsgesetz zufolge müssen Versammlungen in den meisten Fällen allerdings 48 Stunden vor Bekanntgabe bei der Versammlungsbehörde angemeldet werden. Ein Verbot ist in Deutschland laut dem Versammlungsgesetz nur in Ausnahmefällen vorgesehen, zum Beispiel wenn durch die Versammlung eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ausgeht.

Juristen uneinig über Angemessenheit

Für Kyrill-Alexander Schwarz, Professor für Öffentliches Recht, sprechen diese Ergebnisse "weitgehend dafür, dass das Konzept, Versammlungen anzumelden und damit eine Kontrolle zu ermöglichen, auch funktioniert." Er erklärt: "Versammlungen dürfen kritisch sein, Versammlungen dürfen auch unangenehme Inhalte haben. Und dann gibt es erst relativ spät gezogene Grenzen."

Für Clemens Arzt, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, deuten die Rechercheergebnisse in Verbindung mit aktueller Rechtsprechung darauf hin, dass nach den massiven Versammlungsverboten in der Zeit der Corona-Pandemie der Wille zu diesen Maßnahmen bei den Behörden nun wieder deutlich zugenommen habe.

"Nach den über Jahrzehnte entwickelten Grundsätzen in der Rechtsprechung zum Versammlungsrecht können Meinungskundgaben bei Versammlungen allenfalls dann unterbunden werden, wenn diese gegen das Strafrecht verstoßen. Verbote im Vorhinein verkennen den Schutz der im Grundgesetz verankerten Meinungs- und Versammlungsfreiheit und sind weder notwendig noch verhältnismäßig", so Arzt.

Staatsräson in Bezug auf Israel unterschiedlich bewertet

Von den untersuchten Versammlungsverboten konnten etwa 41 Prozent einem pro-palästinensischen Hintergrund zugeordnet werden, circa 52 Prozent waren Bauernproteste. Während sich die Verbote der Bauerndemos allerdings im überwiegenden Teil auf einen einzigen Landkreis konzentrierten, traten die Verbote der Pro-Palästina-Proteste deutschlandweit insbesondere in Großstädten auf. 

Staatsrechtler Arzt hebt die Zahlen der verbotenen Palästina-Demos besonders hervor: "Mit Blick auf die deutsche Geschichte wird die 'unverbrüchliche' Solidarität mit Israel zur Staatsräson. Politisch mag dies verständlich sein. Die Staatsräson kann indes Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht rechtfertigen."

Diese Sichtweise ist unter Juristen allerdings umstritten. So kann Kyrill-Alexander Schwarz aus den Zahlen keine Orientierung an der Staatsräson ableiten.

Kritik von Amnesty International

Die Debatte um die Versammlungsfreiheit hat sich bis zuletzt vor allem an den Pro-Palästina-Demonstrationen im Zusammenhang mit dem Israel-Gaza-Krieg aufgehängt. So brachte Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) im Oktober erneut Demonstrationsverbote für Versammlungen dieser Art ins Gespräch.

Amnesty International kritisiert die Demonstrationsverbote. In einem Bericht aus dem Juli 2024 hieß es: "Europaweit schränken Behörden vor allem Palästina-solidarische Proteste ein oder verbieten sie gänzlich. Diese Maßnahmen sind oft unverhältnismäßig und verstärken teilweise rassistische Vorurteile und Stereotypisierungen."

Kritische Bewertung von Allgemeinverfügungen

Pauschale Versammlungsverbote in Form von Allgemeinverfügungen spielten sowohl bei Bauern- als auch Pro-Palästina-Demos eine Rolle. Allgemeinverfügungen werden von beiden Experten kritisch bewertet.

"Jedes Verbot und jede Auflösung einer Versammlung hat bestimmte rechtliche Anforderungen, das heißt eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung", sagt Staatsrechtler Arzt. Die könne man jedoch nicht für Wochen oder Tage im Voraus prognostizieren. "Das widerspricht eigentlich der Kernidee von Artikel 8 des Grundgesetzes."