Nach russischer Besatzung Wo sind die Häftlinge von Cherson?
Nach der Befreiung von Cherson mehren sich die Anzeichen dafür, dass die russischen Truppen bei ihrem Abzug mehr als 2000 Häftlinge nach Russland verschleppt haben könnten.
Die Ukrainerin Tatjana L. ist verzweifelt. Seit fast einem Monat hat sie nichts mehr von ihrem Sohn gehört. Dmitrij wurde Ende 2020 wegen eines Raubüberfalls zu fünf Jahren Haft verurteilt. Seine Haftstrafe saß er in einer Strafkolonie in der Region Cherson ab, der Provinz im Süden der Ukraine, die bis Anfang November mehr als acht Monate unter russischer Besatzung stand.
Am 7. November meldete sich Dmitrij das letzte Mal per Textnachricht bei seiner Mutter: "Er hat gesagt, dass er mit anderen Häftlingen auf die Krim überführt wird", erzählt Tatjana im Interview mit dem ARD-Politikmagazin Kontraste. Seitdem sei der Kontakt zu ihm abgebrochen. "Dmitrij hat früher immer einen Weg gefunden in Kontakt zu bleiben, egal wie schwierig die Situation war", sagt sie.
Ihr einziger Sohn Dmitrij könnte einer von bis zu 2500 ukrainischen Gefängnisinsassen sein, die im November über die von Russland annektierte Krim in Gefängnisse auf russischem Staatsgebiet verschleppt worden sein sollen. Die russische Menschenrechtsorganisation "Rus Sidjaschtschaja" ("Russland hinter Gittern") kümmert sich um die Rechte von Inhaftierten und steht im Kontakt zu mehreren Ukrainern, die derzeit nach ihren Angehörigen suchen. Laut der Organisation haben bislang zehn ukrainische Familien Nachrichten von ihren Angehörigen bekommen, dass sie sich in Strafkolonien in Russland befänden.
Häftlinge misshandelt und isoliert
Olga Romanowa, Vorsitzende von "Rus Sidjaschtschaja", sagt im Interview mit Kontraste, dass die meisten Inhaftierten zunächst in Strafkolonien im Süden Russlands verschleppt wurden, darunter Gefängnisse in der Region Krasnodar und Wolgograd. Ihre Quellen aus dem russischen Strafvollzug berichten, dass die Ukrainer bei Ankunft in den Gefängnissen Spuren von Misshandlungen aufwiesen und isoliert von russischen Häftlingen gehalten werden: "In einer Strafkolonie in der Region Wolgograd wurden die Ukrainer in komplett leere Baracken einquartiert, zuvor wurden von dort alle Gegenstände entfernt, den Inhaftierten war einzig und allein ein Löffel erlaubt", sagt Olga Romanowa.
Der Menschenrechtlerin zufolge sind im russischen Strafvollzugsystem die Verwandten der Inhaftierten ein wichtiger Faktor bei ihrer Versorgung. Im Falle der verschleppten Ukrainer ist diese Hilfe durch Verwandte aber unmöglich. Den Häftlingen sei es zudem verboten worden, persönlichen Besitz aus der Haft in der Ukraine mitzunehmen. Romanowas Organisation versucht daher, ihnen mit Lebensmitteln und Kleidung auszuhelfen. Nach Informationen von "Rus Sidjaschtschaja" und der Menschenrechtsorganisation Gulagu.net konnten die verschleppten ukrainischen Häftlinge mittlerweile in zehn Gefängnissen ausfindig gemacht werden, darunter auch in der zentralrussischen Region Wladimir.
Ukrainische Häftlinge als Söldner rekrutiert?
Michail Savva vom "Center for Civil Liberties" in Kiew, das kürzlich mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, geht davon aus, dass die ukrainischen Häftlinge systematischer Erniedrigung und Folter ausgesetzt sind: "Im russischen Strafvollzug gibt es ein Handbuch wie Ukrainer behandelt werden müssen", sagt Savva, der Kontraste von Erfahrungen ehemaliger ukrainischer Häftlinge berichtete. Demnach werden die Ukrainer dazu gezwungen, die russische Hymne und ein Lobeslied auf Wladimir Putin zu singen. Wer sich weigere, den Anweisungen zu folgen, werde verprügelt. Tattoos mit ukrainischer Symbolik wie dem Dreizack würden mit Benzin aus der Haut gebrannt.
Bislang ist jedoch vollkommen unklar, warum Russland Tausende ukrainische Häftlinge auf sein Staatsgebiet verschleppt haben soll. Menschenrechtlerin Olga Romanowa vermutet, dass Russland die Häftlinge zu Söldnern machen wolle. Die Inhaftierten aus dem Gebiet Cherson seien für den Kreml russische Staatsbürger, obwohl die meisten von ihnen nicht über eine Staatsbürgerschaft verfügen. Russland beharre immer noch auf dem Ergebnis der Scheinreferenden. Die Folgen für die ukrainischen Häftlinge könnten fatal sein: "Man wird die Inhaftierten vor die Wahl stellen, entweder erneut nach russischem Recht verurteilt zu werden oder sich den Söldnertruppen anzuschließen und für Russland in den Krieg zu ziehen", befürchtet Romanowa.
Schon seit Monaten rekrutiert Russland in seinen eigenen Gefängnissen Söldner für den Krieg in der Ukraine. Nach Schätzungen von "Rus Sidjaschtschaja" sollen bislang bis zu 35.000 Häftlinge russlandweit angeworben worden sein. Die Verluste unter dieser Gruppe sollen besonders hoch sein.
Seit Kriegsbeginn Millionen Zivilisten verschleppt
Wenig Informationen gibt es bislang dazu, ob unter den rund 2500 verschleppten Häftlingen auch von Russen verhaftete ukrainische Zivilisten und Soldaten sein könnten. Michail Savva vom "Center for Civil Liberties" in Kiew geht davon aus. Während der Besatzungszeit sperrten russische Soldaten auch Zivilisten und Soldaten in die Gefängnisse. So seien beide Gruppen zumeist unter dem selben Vorwand des "Widerstands gegen die militärische Spezialoperation" inhaftiert worden. Dadurch könnten neben den durch ukrainische Gerichte verurteilten Straftätern auch Zivilisten und Soldaten in den Gefängnissen gewesen sein, die nun vermutlich ebenfalls nach Russland deportiert wurden.
Seit Beginn des Krieges gibt es immer wieder Informationen darüber, dass Russland Ukrainer aus dem Land verschleppt. Erst Mitte November hatte die ukrainische Regierung verkündet, dass mindestens 11.000 Kinder namentlich bekannt seien, die gewaltsam nach Russland gebracht worden sein sollen. Die Dunkelziffer liege noch höher. Insgesamt geht die Ukraine von bis zu zwei Millionen Verschleppten aus.