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Russische Spionage Die Agenten von nebenan

Stand: 12.06.2024 05:59 Uhr

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges wurden in mehreren europäischen Ländern "Illegale" enttarnt - russische Spione mit falscher Identität. Der Verfassungsschutz geht davon aus, dass sie auch verstärkt in Deutschland eingesetzt werden.

Von Manuel Bewarder, Florian Flade und Palina Milling, WDR/NDR

Sie wirken wie die netten, freundlichen Nachbarn von nebenan. Manche sind Familien mit Kindern, leben ein bürgerliches Leben in der Kleinstadt. Andere sind Studenten, besuchen Universitäten in unterschiedlichen Ländern, arbeiten als Wissenschaftler. In Russland gelten sie als Elite unter den Spionen, Wladimir Putin nennt sie stolz "Wunderkinder" - die sogenannten Illegalen.

Gemeint sind russische Geheimdienstler, die unter einer falschen Legende oft Jahre, teilweise Jahrzehnte im Einsatzland leben, dort Informationen beschaffen und Aufträge erledigen. Anders als Spione, die aus Botschaften und Konsulaten heraus agieren, verfügen die Illegalen über keinen diplomatischen Schutz. Wenn sie enttarnt werden, drohen lange Haftstrafen.

Deutsche Sicherheitsbehörden gehen nach Recherchen von WDR und NDR davon aus, dass Russland künftig verstärkt auf diese Undercover-Spione setzen wird - und dass solche Spione derzeit schon hierzulande aktiv sind. "Ja, wir gehen davon aus, dass es auch in Deutschland weitere Illegale gibt", sagte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Thomas Haldenwang, im Interview.

"Dieses Instrument, dieses sehr aufwendige Instrument der Illegalen, scheint nach wie vor zur Anwendung zu kommen." Der Verfassungsschutz arbeite "sehr intensiv" an der Aufdeckung möglicher Fälle, so Haldenwang.

Jahrzehntelang spioniert

In Deutschland sind seit dem Ende des Kalten Krieges bislang nur in einem Fall russische Illegale enttarnt worden: Im Oktober 2011 wurde das Ehepaar mit den falschen Namen Heidrun und Andreas Anschlag festgenommen, zu Gefängnisstrafen verurteilt und später nach Russland abgeschoben. Sie hatten sich als in Südamerika aufgewachsene Österreicher ausgegeben und jahrzehntelang in Deutschland spioniert.

Ein neuer Podcast von WDR und NDR "Die Anschlags - Russlands Spione unter uns" beleuchtet den Fall Anschlag. Die Reportinnen und Reporter haben sich auf die Spuren des Agentenpaares begeben und recherchierten, wie die Anschlags mit Legenden ausgestattet und auf ihren Einsatz in Deutschland vorbereitet wurden, wie sie viele Jahre unentdeckt bleiben konnten, und wie sie schließlich aufflogen.

Erstmals äußert sich die wohl wichtigste Quelle der beiden Spione, ein niederländischer Diplomat, der jahrelang geheime NATO-Papiere verraten hatte.

Mehrere Agenten aufgeflogen

Seit dem Beginn von Russlands Invasion in der Ukraine im Februar 2022 sind mehrere russische Illegale in den Niederlanden, Griechenland, Norwegen und in Slowenien aufgeflogen. Dazu zählt ein Russe, der sich als Brasilianer ausgegeben hatte, an Universitäten in Irland und den USA studiert hatte, bevor er in die Niederlande reiste, um dort ein Praktikum beim Internationalen Strafgerichtshof anzutreten.

Im norwegischen Tromsø wiederum wurde ein Forscher an einer Universität festgenommen, der sich mit der geopolitischen Bedeutung der Arktis-Region beschäftigt hatte. Auch er gab an, gebürtiger Brasilianer zu sein. 

In der slowenischen Hauptstadt Ljubljana wurde im Dezember 2022 ein Ehepaar mit Kindern festgenommen. Bei diesem Pärchen handelt es sich womöglich um Spione, die andere Illegale in Europa mit Geld versorgt haben könnten. Bei einer Durchsuchung hatten Ermittler jedenfalls erstaunlich große Summen an Bargeld gefunden. 

Der deutsche Verfassungsschutz soll den slowenischen Behörden bei der Aufklärung von Kontakten und Reisen nach Deutschland geholfen haben. Der festgenommene Mann etwa, der vorgab gebürtig aus Namibia zu stammen, besuchte zum Beispiel eine IT-Messe in Süddeutschland. Seine Frau, eine angebliche Argentinierin, betrieb eine Galerie und arbeitete unter anderem mit Künstlern aus Deutschland.

Haldenwang: "Wir halten energisch dagegen"

Nach Angaben des Verfassungsschutzes betreibt Russland in Westeuropa umfassende Spionageaktivitäten: "Wir gehen davon aus, Russland nutzt den vollen Werkzeugkasten aller Spionagewerkzeuge, die vorstellbar sind, bis hin auch zur Tötung von Gegnern", sagte Haldenwang. 

Seit mehreren Wochen warnen europäische Nachrichtendienste verstärkt vor Sabotageakten und Brandanschlägen, hinter denen Russlands Spione stecken könnten. In Polen gab es bereits mehrere Festnahmen. In Bayern wurden zwei Männer wegen Spionageverdachts festgenommen. Ihnen wird zudem vorgeworfen, dass sie mit Sabotageakten die militärische Unterstützung der Ukraine stören wollten.  

Der Verfassungsschutzchef sagt, die Bundesrepublik stehe im "Fokus der Aufklärung durch russische Dienste". Von Interesse sind demnach Informationen zur Verteidigungspolitik, Rüstungspolitik, zur Unterstützung der Ukraine oder zu Sanktionen gegen Russland. "All das soll aufgeklärt werden und entsprechende Anstrengungen werden unternommen", sagte Haldenwang. "Wir halten energisch dagegen."

Strategien zur Enttarnung

Illegale sind für Russland derzeit nach Schätzungen aus Sicherheitskreisen wichtiger denn je. Denn seit dem russischen Überfall auf die Ukraine wurden Hunderte Mitarbeiter der Botschaften Russlands aus Europa ausgewiesen. Damit ging die Anzahl der Personen, die mit Schutz des diplomatischen Passes für Russland spionieren können, deutlich zurück. Deswegen, so die Prognose der Sicherheitsbehörden, werde Russland auch verstärkt auf illegale Spione setzen, die sich unentdeckt längst in Europa aufhalten.

Inzwischen beschäftigen die Illegalen auch die europäische Nachrichtendienstcommunity. In Projektgruppen werden Strategien entworfen, wie solche Spione enttarnt werden können. Beispielsweise indem bestimmte Muster bei der Legendierung, also der Tarnung solcher Spione mit falschen Biografien, erkannt werden.

Lange Tradition

Das Illegalen-Programm wurde bereits kurz nach der Gründung der Sowjetunion 1922 ins Leben gerufen. Der KGB schickte damals schon Spione mit falschen Biografien in alle Welt, um Informationen zu beschaffen, Dissidenten und Oppositionelle auszuspähen. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde diese Spionage vom neuen russischen Auslandsgeheimdienst SWR fortgeführt. Daneben setzt auch der russische Militärgeheimdienst GRU seit einigen Jahren wieder Illegale ein.

Europäische Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass in Russland auch eine Art "Illegalen Light"-Programm existiert, bei dem die Spione nach kürzerer Ausbildung und mit weniger tiefgreifenden Falsch-Biografien ausgestattet werden, um schneller eingesetzt werden zu können - getarnt etwa als Studenten oder Geschäftsleute.

Nachrichten per Kurzwellenfunk

Nach Informationen von WDR und NDR setzt Russland beim Einsatz der Illegalen-Spione auch weiterhin auf ein klassisches Werkzeug, das fast wie ein Relikt aus dem Kalten Krieg wirkt: den Agentenfunk per Kurzwelle. Damit werden Aufträge an Spione übermittelt, mithören kann diese Meldungen im Prinzip jeder, dadurch ist unklar, wer die genauen Empfänger sind. Die Botschaften sind zudem verschlüsselt und können nur mit einem entsprechenden Dechiffriercode lesbar gemacht werden.

Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine soll sich die Aktivität der Russland zugeschriebenen Sender erhöht haben. Ein Indiz, dass möglicherweise bereits eingeschleuste Spione neue Aufträge erhalten, oder dass sich die Zahl der Illegalen in den vergangenen Jahren sogar noch einmal erhöht haben könnte.