Jan Marsalek
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Russische Spionage "Operation Vienna"

Stand: 20.12.2024 13:00 Uhr

Der ehemalige Wirecard-Vorstand Marsalek konnte für seine mutmaßlichen Aktionen im Auftrag Russlands offenbar auf mehr Personal zurückgreifen als bisher bekannt. In Wien gab es jetzt eine weitere Festnahme. 

Von Von Manuel Bewarder, WDR/NDR und Florian Flade, WDR

Es ist eine weitere Facette im Agenten-Thriller um den ehemaligen Top-Manager von Wirecard, Jan Marsalek. Eine in Wien wohnhafte Bulgarin soll einem der meistgesuchten Männer Europas bei dessen mutmaßlichen Spionageaktionen geholfen haben - und bekam deshalb kürzlich Besuch von der Polizei. Am frühen Morgen des 7. Dezember rückten österreichische Beamte in Wien bei jener Bulgarin an. Die 48-Jährige wurde kurzerhand vorübergehend festgenommen und ihre Wohnung mehrere Stunden lang durchsucht.

Der Vorwurf: Sie soll zu einem europaweiten Netzwerk von Amateur-Agenten gehören, die der flüchtige Ex-Wirecard-Vorstand Marsalek angeleitet haben soll, um Spionageaufträge für den russischen Staat zu erledigen.

Das geht aus den Unterlagen zur Festnahme der Bulgarin hervor, die WDR, NDR und Süddeutsche Zeitung gemeinsam mit dem österreichischen Magazin Profil auswerten konnten. Was somit immer klarer erscheint: Das Netzwerk an Helferinnen und Helfern, auf das Marsalek und damit mutmaßlich russische Geheimdienste in Europa zugreifen konnten, ist wohl größer als bislang angenommen.

Spionageprozess in London

Zentral für die aktuellen Ermittlungen in Österreich ist ein Prozess, der seit November am Central Criminal Court in London läuft. Dort stehen drei seit mehreren Jahren in England lebende Bulgaren vor Gericht. Die drei wehren sich gegen den Spionagevorwurf. Aber sie haben ein Problem: Zwei weitere Bulgaren, darunter der mutmaßliche Kopf der Agentenzelle, Orlin R., haben bereits gestanden, dass sie für Russland Informationen beschafft haben.

Die Staatsanwaltschaft versucht nun, den drei derzeit Angeklagten nachzuweisen, dass ihnen bewusst gewesen sein muss, dass sie im Auftrag des Kreml unterwegs waren. Zentral für die Anklage sind dabei rund 80.000 Chatnachrichten, die der ehemalige Wirecard-Manager Marsalek mit seinem langjährigen Bekannten Orlin R. zwischen 2020 und 2023 ausgetauscht haben sollen. Roussev wiederum soll dann die Aufträge mit Hilfe seiner mutmaßlichen bulgarischen Komplizen ausgeführt oder zumindest gesteuert haben.

Im aktuellen Prozess in London geht es konkret um sechs Operationen - darunter Ausspähaktionen gegen den ebenfalls bulgarischen Investigativjournalisten Christo Grozev, der mit kritischen Recherchen gegen Russland seit Jahren für Aufsehen sorgt. Und hier soll die bulgarische Frau, die in Wien im Fokus der Ermittler steht, eine Rolle gespielt haben.

In mehreren Ländern beschattet

Grozev soll laut Anklage gleich in mehreren Ländern beschattet worden sein, darunter Österreich, Montenegro und Spanien. Unter den 80.000 Chatnachrichten soll es auch solche geben, in denen Marsalek und Roussev erörtern, wie Grozev entführt oder gar getötet werden könnte. Die Bulgaren sollen auch in seine Wohnung eingebrochen sein, einen seiner Computer gestohlen und sein Leben in Wien, wo er zeitweise lebte, ausspioniert haben. Arbeitstitel: "Operation Vienna".

Die nun in Wien ins Visier der Ermittler geratene Bulgarin könnte für die mutmaßlichen Ausspähaktionen dort eine zentrale Rolle spielen. Im Jahr 2021 soll sie sich dort mit einer der in London Angeklagten getroffen haben. Dieser Angeklagten wird vorgeworfen, 2021 extra eine Airbnb-Wohnung mit Sicht auf Grozevs damalige Adresse angemietet haben – und just in diesem Appartement soll dann ihre Bekannte, die Wiener Bulgarin, aufgetaucht sein. Ihr wird nun den Recherchen zufolge vorgeworfen, die Speicherkarte einer Kamera ausgetauscht und Fotos heruntergeladen zu haben. Dazu gibt es Hinweise, dass sich mehrere Beschuldigte in Wien in der Nähe ihrer Wohnadresse aufgehalten haben sollen.

Der Recherche von WDR, NDR, SZ und Profil zufolge hat die Frau nach der Durchsuchung Anfang Dezember in Österreich bei den Ermittlern ausgesagt. Sie habe eine der in London vor Gericht stehenden Angeklagten vor mehreren Jahren in einem Nagelstudio in der bulgarischen Hauptstadt Sofia kennengelernt. Über soziale Medien sei man lose in Kontakt geblieben - bis die heute Angeklagte sich im Sommer 2021 bei ihr gemeldet habe. Die österreichischen Ermittler gehen heute davon aus, dass es für die aus England operierende Bulgarengruppe wichtig gewesen sei, in Wien einen festen Kontakt zu haben - die Landsfrau,  die auch Deutsch spricht.

Aus Untersuchungshaft entlassen

In ihrer Vernehmung in Wien soll die Frau gesagt haben, dass sie nichts von einer möglichen Spionagetätigkeit gewusst habe. Sie kenne Jan Marsalek nicht, soll sie den österreichischen Beamten gesagt haben. Ihre Bekannte habe ihr zunächst erzählt, sie könne ihr bei der Eröffnung eines Nagelstudios in Wien helfen. Dann sei die Rede von einer Aktion für die internationale Polizeibehörde Interpol gewesen; dafür habe sie Wohnhäuser fotografieren sowie Personen und ihre Gewohnheiten beobachten sollen.

Auch wenn das die österreichischen Behörden die Bulgarin offenbar für "dringend tatverdächtig" halten - aus der Untersuchungshaft wurde sie inzwischen dennoch entlassen. Es gilt dennoch die Unschuldsvermutung.

Die Informationen, die in diesen Wochen bekannt werden, deuten darauf hin, dass es für Marsalek offenbar ein Leichtes war, mithilfe des Bulgaren Roussev Unterstützer für geplante Aktionen zu finden - und es deutet sich an, dass das gesamte Netzwerk noch größer gewesen sein könnte. Spuren finden sich in den Chats. Als es dort um die mögliche Entführung eines unliebsamen Journalisten aus Großbritannien ging, brachte Roussev einen ehemaligen bulgarischen Soldaten ins Spiel, der für eine Entführung per Boot geeignet sei. Dazu passt, dass auch der österreichische Staatsschutz inzwischen von weiteren, bislang noch unbekannten Mitgliedern der sogenannten "Marsalek-Zelle" ausgeht.

Spur nach Deutschland

Eine Spur könnte dabei auch nach Deutschland führen. Den drei Londoner Angeklagten wird der Ausspähversuch einer US-Militärbasis bei Stuttgart vorgeworfen. Dort wurden ukrainische Militärangehörige ausgebildet. Der mutmaßliche Kopf der Truppe soll in Chatnachrichten mit Marsalek eine Bulgarin in Stuttgart erwähnt haben, die man bereits von einer vorherigen Aktion kenne.

Auch in Deutschland wird gegen Marsalek wegen seiner Verbindungen zu russischen Geheimdiensten und den Ausspähaktionen in Stuttgart ermittelt, der Generalbundesanwalt führt seit mehr als einem Jahr ein eigenes Verfahren gegen den österreichischen Staatsbürger. Jan Marsaleks Anwalt wollte sich auf Anfrage nicht äußern.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 29. November 2024 um 13:46 Uhr.