Ein Polizeiauto steht vor einem Wohnblock in Offenbach.
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Ermittlungen wegen Spionage Der Mann mit den vielen Identitäten

Stand: 23.07.2024 18:07 Uhr

In Frankfurt sollen drei mutmaßliche Agenten einen Ukrainer ausgespäht haben. Wer ist der Mann, der behauptet, in Russland auf einer "Todesliste" zu stehen?

Von Florian Flade, Antonius Kempmann und Palina Milling, WDR/NDR

Russische Soldaten liegen regungslos auf einer Straße unweit von Kiew. Getötet offenbar. Einer lebt wohl noch, wird dann aber auch erschossen. Bewaffnete Uniformierte jubeln in die Kamera, sie rufen: "Ruhm der Ukraine!". Die Szenen stammen aus einem Video, das Ende März 2022, wenige Wochen nach Beginn des russischen Angriffskrieges, in sozialen Netzwerken verbreitet wurde.

Es könnte ein Beleg für ein Kriegsverbrechen sein - begangen durch eine ukrainische Kampfeinheit. Denn es zeigt offenbar die Tötung von Kriegsgefangenen. Einer der getöteten Russen hat offenbar die Hände hinter dem Rücken gefesselt.

Das rund zweieinhalb Minuten lange Video beschäftigt nun auch deutsche Sicherheitsbehörden. Denn darin taucht ein Mann auf, der womöglich im Mittelpunkt eines brisanten Ermittlungsverfahrens steht: Mitte Juni waren in Frankfurt am Main drei Männer festgenommen worden. Der Generalbundesanwalt wirft ihnen vor, für einen ausländischen Geheimdienst eine in Deutschland lebende Person aus der Ukraine ausgespäht zu haben - möglicherweise als Vorbereitung auf ein Attentat oder eine Entführung.

Das potenzielle Opfer hatte sich zuvor selbst bei der hessischen Polizei gemeldet. Der Mann erklärte, er sei Ende April über den Messenger-Dienst Signal von einem gewissen "Yaroslav" kontaktiert worden, der sich als ukrainischer Geheimdienstmitarbeiter ausgegeben habe. Tatsächlich aber vermute er eine Falle des russischen Geheimdienstes, so soll der Mann es der Polizei gesagt haben. Denn Moskau jage ihn, er gelte als Kriegsverbrecher.

In Absprache mit den Ermittlern soll schließlich ein vermeintliches Treffen vereinbart worden sein, zu dem die drei Männer erschienen, die weiterhin in Untersuchungshaft sitzen.

Auch Verfassungsschutz und BND ermitteln

WDR, NDR und SZ haben in den vergangenen Wochen zu dem rätselhaft erscheinenden Fall recherchiert, der mittlerweile nicht nur das hessische Landeskriminalamt (LKA), sondern auch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und den Bundesnachrichtendienst (BND) beschäftigt. Im Kern geht es um zwei Fragen: Wer ist der Mann, der sich von Russland verfolgt fühlt? Und plante das festgenommene Trio ein Attentat auf ihn?

Den hessischen Ermittlern erzählte der Mann den Recherchen zufolge eine ziemlich abenteuerliche Geschichte: Er sei im August 2023 mit einem georgischen Pass unter einem falschen Namen nach Deutschland eingereist. Seine Frau und seine Kinder lebten da bereits in Hessen. Sein wahrer Name laute M.S., und er stamme gebürtig aus Georgien. 2012 sei er in die Ukraine gekommen, ab 2014 habe er dort im Militär gedient und ab Februar 2022 als Offizier in einer Kampfeinheit gegen das russische Militär gekämpft. Allerdings wieder unter einem anderen Namen: M.K.

Im März 2022 habe er mit seiner Einheit in der Nähe von Butscha bei Kiew eine Gruppe russischer Soldaten als Kriegsgefangene genommen, so berichtete der Mann der hessischen Polizei. Dann habe es einen russischen Angriff gegeben und die Gefangenen seien bei diesem getötet worden. Von diesem Vorfall existiere auch ein Video, das kurz darauf im Netz kursiert sei. Darin sei auch er zu sehen, und deshalb gelte er in Russland als Kriegsverbrecher und werde gesucht. Sogar ein Kopfgeld sei auf ihn ausgesetzt.

Der Mann hat mutmaßlich noch eine andere Vorgeschichte - eine kriminelle. Recherchen von WDR, NDR und SZ zufolge stand eine Person mit dem Namen M.S. und auch jenem Geburtsdatum, das der Mann den hessischen Ermittlern nannte, im Jahr 2018 in der Ukraine vor Gericht. Und zwar wegen schwerer Raubüberfälle. Es gibt ein Video vom Prozessauftakt, zu sehen ist ein kräftiger Mann mit dickem, schwarzgrauem Vollbart.

Er sieht einem Ukraine-Kämpfer verblüffend ähnlich, der in dem Video vom März 2022 auftaucht, in dem die getöteten russischen Soldaten zu sehen sind. Ein Abgleich mit einer Gesichtserkennungssoftware ergab eine hohe Übereinstimmung - aber sicher ist das nicht. Der ukrainische Soldat wurde jedoch später von russischen Medien nicht als M.S. identifiziert, sondern mit einem weiteren Namen.

Leibwächter des georgischen Ex-Präsidenten?

Den deutschen Polizisten bestätigte M.S., er sei in der Ukraine unter dem georgischen Namen M.K. bekannt. Diese Identität habe er vom ukrainischen Geheimdienst bekommen, es sei ein Fantasiename. Er sei außerdem Leibwächter des früheren georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili gewesen.

Es gibt tatsächlich Fotos, die einen Personenschützer neben Saakaschwili zeigen, der große Ähnlichkeit mit dem Soldaten aus dem Gräuelvideo aus der Ukraine und jenem Mann aufweist, der wegen der Raubüberfälle in der Ukraine vor Gericht stand - damals allerdings noch ohne Vollbart. Auch hier geht eine Gesichtserkennungssoftware davon aus, dass es sich wohl um dieselbe Person handelt.

Folglich könnte der Mann, der nun behauptet, auf einer Todesliste des Kreml zu stehen, früher wirklich als Personenschützer des georgischen Ex-Präsidenten tätig gewesen sein, stand dann möglicherweise in der Ukraine wegen Raubüberfällen vor Gericht - und könnte schließlich unter einer anderen Identität in einer georgischen Einheit gegen die russischen Angreifer gekämpft haben.

Im Juni 2022 meldeten russische Medien, die besagte Kampfeinheit, die für Kriegsverbrechen verantwortlich sein soll, sei vernichtet worden. Auch jener Soldat mit dem schwarzgrauen Vollbart sei getötet worden, hieß es. Was wiederum die Frage aufwirft: Lügt der Mann, der bei deutschen Ermittlern erschien - oder hat er schlichtweg die Gelegenheit genutzt oder gar bewusst seinen eigenen Tod vorgetäuscht, um unterzutauchen?

Offenbar Ausreise über Polen

Der Mann jedenfalls soll gegenüber den deutschen Ermittlern berichtet haben, er sei in der Ukraine schwer verletzt worden, als sein Fahrzeug auf eine Mine gefahren sei. Die ukrainischen Behörden hätten ihn anschließend aufgefordert, das Land zu verlassen. Sie hätten ihm dann einen neuen georgischen Ausweis beschafft und ihn an die polnische Grenze gefahren.

Als es Probleme beim Grenzübertritt gegeben habe, so berichtete der Mann, habe er eine Urkunde vorgezeigt, persönlich unterzeichnet von einem Vertreter des ukrainischen Militärgeheimdienstes. Dann habe er nach Polen ausreisen dürfen und sei zu seiner Frau und den beiden Kindern nach Deutschland gereist. Wegen des Videos und seiner Aussage bei der Polizei ermittelt der Generalbundesanwalt auch gegen M.S. - wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen an russischen Kriegsgefangenen.

Weder die ukrainische noch die georgische Botschaft wollten sich auf schriftliche Anfrage zu dem Sachverhalt äußern. Ein Anwalt des Mannes war für eine Stellungnahme zunächst nicht zu erreichen.

In Sicherheitskreisen heißt es, der Fall weise Parallelen zum so genannten Tiergartenmord auf - dem einzigen bisher bekannten russischen Auftragsmord auf deutschem Staatsgebiet. Im August 2019 war in Berlin ein Tschetschene aus Georgien in einem Park von einem Russen erschossen worden. Ein Attentat im Auftrag des russischen Staates, so urteilte das Gericht später. Der Mörder war wohl vom russischen Geheimdienst rekrutiert worden, das Opfer galt in Russland als Terrorist und Staatsfeind.

Nun stellt man sich beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe die Frage: War in Frankfurt möglicherweise Ähnliches geplant?

Zielperson ausgespäht?

Die drei Verdächtigen, die Mitte Juni in Frankfurt festgenommen wurden, stehen im Verdacht, den Mann, der sich mal M.S. und mal M.K. nennt, ausgespäht zu haben. Bei der Festnahme der drei wurden Pässe, Kreditkarten, eine größere Summe Bargeld und ein GPS-Peilsender sichergestellt; jedoch keine Waffen oder etwa Gift. Die Ermittler gehen davon aus, dass die mutmaßlichen Agenten zunächst herausfinden sollten, wo sich die Zielperson aufhält, wo sie wohnt und wie sie sich bewegt.

Zwei aus dem Trio haben gegenüber den Ermittlern erklärt, sie seien unschuldig, würden nicht für einen Geheimdienst arbeiten, seien nur zufällig in dem Frankfurter Café gewesen. Die Anwälte der drei Beschuldigten wollten auf Anfrage nicht Stellung nehmen.

Die dritte Person, ein Armenier, schweigt weiterhin. Auf seinem Handy konnten die Ermittler mittlerweile mehrere Fotos wiederherstellen, die gelöscht worden waren - sie zeigen den bärtigen Soldaten aus dem Video aus der Ukraine.