Pädokriminelle Bilder im Netz EU-Abgeordnete fordern Aufklärung
2021 ließ das BKA die mutmaßlichen Betreiber der Darknet-Plattform "Boystown" verhaften, auf der Bilder von schwerem Kindesmissbrauch getauscht wurden. Die Aufnahmen ließen die Ermittler jedoch im Netz. Das sorgt für massive Kritik.
Eine Gruppe von 20 Abgeordneten aus fünf Fraktionen des Europäischen Parlaments hat die EU-Kommission aufgefordert, Stellung zu nehmen zur Rolle von Europol im Fall der pädokriminellen Darknet-Plattform "Boystown". Ermittlungen hatten im April 2021 zur Verhaftung der mutmaßlichen Hintermänner geführt. Sie waren ursprünglich von deutschen Strafverfolgungsbehörden initiiert worden, dann jedoch innerhalb einer internationalen Task Force von der EU-Polizeibehörde koordiniert worden.
Gemeinsame Recherchen von Panorama, STRG_F und "Spiegel" hatten ergeben, dass die "Boystown"-Server zwar abgeschaltet worden waren, im Netz gelassen wurden jedoch die dort getauschten Aufnahmen, die schweren sexuellen Kindesmissbrauch zeigen. Da die Fotos und Videos bei gewöhnlichen Speicherdiensten im Internet und nicht im Darknet lagen, hätten die Ermittler die Betreiber dieser Dienste informieren und die Aufnahmen einfach löschen lassen können. Dies wurde nicht gemacht. In der Folge verbreiteten Pädokriminelle Links zu den Inhalten in einem anderen Forum, sodass die "Boystown"-Inhalte schon wenige Tage später wieder verfügbar waren.
Warum ließ niemand die Aufnahmen löschen?
Das Schreiben an die EU-Kommission, das Panorama vorliegt, haben Abgeordnete aus elf EU-Staaten unterzeichnet. Sie gehören Fraktionen aller politischen Spektren an, nämlich Grüne, Sozialdemokraten, Liberale, Linke und Rechtspopulisten. Die Parlamentarier möchten insbesondere wissen, wieso auch Europol die Inhalte bei den betreffenden Speicherdiensten nicht entfernen ließ, obwohl damit eine Weiterverbreitung der "Boystown"-Inhalte eingedämmt worden wäre.
Außerdem fragen sie, wie aktuell noch stattfindender Missbrauch erkannt und Kinder gerettet werden könnten, wenn die Strafverfolgungsbehörden offenbar nicht einmal die Kapazitäten hätten, Hinweise beschlagnahmter Server an Internetunternehmen weiterzuleiten. An den Ermittlungen zu "Boystown" waren Strafverfolger aus Deutschland, Schweden, den Niederlanden, Australien, den USA und Kanada beteiligt.
Kommission will mit neuem Gesetzespaket punkten
Die Fragen der Abgeordneten kommen für die EU-Kommission zu einem politisch ungünstigen Zeitpunkt. Am 2. März möchte die Kommission einen überarbeiteten Gesetzesentwurf vorlegen, mit dem Anbieter von Messenger-Apps und E-Maildiensten verpflichtet werden sollen, alle Nachrichten ihrer Nutzer zu überwachen, um bekannte Kindesmissbrauchsdarstellungen zu entdecken. Die Pläne sind umstritten, weil solche Überwachungspflichten die Verschlüsselung der Dienste schwächen und damit Hackerangriffe begünstigen könnten. Bürgerrechtler kritisieren außerdem den Eingriff in die Privatsphäre unschuldiger Menschen.
In ihrem Brief warnen die EU-Abgeordneten vor dem Hintergrund der "Boystown"-Geschehnisse nun, dass die Pläne mehr Schaden als Nutzen anrichten könnten. Die Filtersysteme würden nur bekannte Aufnahmen finden, nicht aber neues Material von noch andauerndem Kindesmissbrauch. Außerdem seien die Filter technisch fehleranfällig und könnten Unschuldige ins Visier der Ermittler bringen.
"Überlastete Strafverfolger, die nicht einmal für die Sichtung und Löschung bekannter Kinderpornografie Zeit haben, mit größtenteils falschen Massenanzeigen zu fluten, ist unverantwortlich den Opfern laufenden Missbrauchs gegenüber", sagt Patrick Breyer, der für die Piratenpartei im EU-Parlament sitzt. Er kündigte an, die Fragen auch im parlamentarischen Aufsichtsgremium von Europol zu stellen, wodurch die EU-Polizeibehörde zu einer Antwort verpflichtet wäre.
Nach Veröffentlichung dieses Artikels teilte Europol am 28. Januar mit, dass die Behörde keine Darstellungen von Kindesmissbrauch an betroffene Internetfirmen weiterleite. Dies sei Aufgabe der zuständigen Behörden in den jeweiligen EU-Mitgliedsstaaten. Die Rolle von Europol in den Ermittlungen zu "Boystown" habe darin gelegen, Treffen der beteiligten Behörden zu organisieren sowie "analytische und technische Unterstützung" zu liefern, um bei der Identifikation potentieller Opfer zu helfen.
Systematische Löschung gefordert
Ähnliche Fragen wie nun die EU-Kommission musste im Dezember bereits das Bundesinnenministerium beantworten, dem das Bundeskriminalamt (BKA) untersteht. Auf eine Frage des Grünen-Abgeordneten Konstantin von Notz, warum das BKA die bei "Boystown" verbreiteten Aufnahmen nicht aus dem Netz entfernen ließ, antwortete Staatssekretär Markus Richter nur ausweichend.
Aufgrund des Umfangs der Datenmengen sei eine Prüfung des Materials bisher nicht möglich gewesen. Prioritär sei, die Inhalte dahingehend auszuwerten, dass den mutmaßlichen Tätern den Prozess gemacht werden kann. Eine Aufforderung zur Löschung erfolge erst danach. Panorama-Recherchen ergaben jedoch, dass die Entfernung der Links parallel zu den strafrechtlichen Ermittlungen erfolgen könnte, ohne Beweise zu vernichten.
Ein Sprecher der zuständigen Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main teilte Panorama mit, dass die Ermittlungen im Verfahrenskomplex "Boystown" andauerten und die vier Beschuldigten weiterhin in Untersuchungshaft säßen. Ob und wann mit einer Anklageerhebung zu rechnen sei, wollte der Sprecher nicht prognostizieren. Dies legt zusammen mit den Aussagen von Staatssekretär Richter nahe, dass die "Boystown"-Inhalte auch ein Dreivierteljahr nach der eigentlichen Abschaltung weiterhin nicht gelöscht worden sind - und von Pädokriminellen weiterhin verbreitet werden können.
Kinder- und Jugendpsychologen sowie der Kinderschutzbund sprachen in Reaktion auf die Veröffentlichungen von Panorama und STRG_F in einer gemeinsamen Erklärung von einer "Ohrfeige für die Betroffenen" sowie einer "Katastrophe für die Prävention seelischer Not". Sie forderten das Bundesinnenministerium und BKA nachdrücklich auf, das Löschen von Bildern, die sexuellen Missbrauch von Kindern zeigen, systematisch durchzuführen.