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Ermittlungen gegen Pädokriminelle o2-Kunden zeitweise überwacht

Stand: 12.09.2024 06:10 Uhr

Damit das BKA den Betreiber des pädokriminellen Forums "Boystown" enttarnen konnte, führte der Telefónica-Konzern 2020 eine großflächige Überwachung durch. Die Rechtsgrundlage dafür ist umstritten.

Von Robert Bongen und Daniel Moßbrucker, NDR

Am 17. Dezember 2020 hatte das Amtsgericht Frankfurt am Main eine außergewöhnliche Überwachungsmaßnahme angeordnet, die schlussendlich zur Identifizierung des mutmaßlichen Betreibers der pädokriminellen Darknetplattform "Boystown" führte.

Nach Recherchen des ARD-Politikmagazins Panorama (NDR) und STRG_F (NDR/funk) sollte der Telefónica-Konzern bis zu drei Monate überwachen, welcher seiner Kunden sich zu einem zuvor vom Bundeskriminalamt (BKA) genannten Server verbinden würde. Zu dieser Zeit hatte der Konzern, dessen Kernmarke o2 ist, über alle Marken hinweg fast 43 Millionen Mobilfunkkunden.

Maßnahme nach wenigen Tagen beendet

Weil der Verdächtige durch die Überwachung nach wenigen Tagen enttarnt war, beendete Telefónica die Maßnahme wieder. Dies zeigen Unterlagen, die Reporter von Panorama und STRG_F einsehen konnten. Daten unverdächtiger Personen wurden demnach im Zuge der Analyse umgehend gelöscht und nicht an Strafverfolgungsbehörden übermittelt.

Der Telefónica-Konzern erklärte auf Anfrage: "Zu den konkreten Inhalten solcher Maßnahmen sind wir zur Vertraulichkeit verpflichtet." Wie viele Verbindungen von Telefónica-Kunden tatsächlich konkret betroffen waren und analysiert wurden, ist unklar. Man kooperiere mit den Strafverfolgungsbehörden "im Rahmen der geltenden rechtlichen und datenschutzrechtlichen Bestimmungen", teilte der Konzern mit.

Staatsanwaltschaft beantragte "IP-Catching"

Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main hatte die von ihr initiierte großflächige Überwachung als "IP-Catching" bezeichnet, so der Fachbegriff. Für die Maßnahme gibt es keine explizite Rechtsgrundlage. Das zuständige Amtsgericht folgte dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft mit der Begründung: Auch wenn es eine "unvermeidbare Drittbetroffenheit" unschuldiger o2-Kunden gäbe, sei die Maßnahme aufgrund der Schwere der Straftaten noch verhältnismäßig. Telefónica betonte, zur Umsetzung solcher Gerichtsbeschlüsse gesetzlich verpflichtet zu sein.

Dass zwecks "IP-Catching" potenziell Millionen Kunden eines nationalen Telefon- und Internetanbieters überwacht werden können, sei "sehr ungewöhnlich" und werfe "viele ungeklärte Rechtsfragen" auf, erklärte Dominik Brodowski, Professor für Digitalisierung des Strafrechts an der Universität des Saarlandes, in einem Interview für Panorama und STRG_F.

"Wohlwollend gesprochen handelt es sich um ein hochgradig kreatives Vorgehen der Ermittlungsbehörden, bei dem verschiedene Eingriffsgrundlagen der Strafprozessordnung munter zusammengewürfelt wurden, was auch in der konkreten Ausgestaltung die Grenzen des rechtlich Zulässigen zumindest ausgereizt, wenn nicht sogar überschritten hat", so Brodowski.

Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main und das BKA wollten sich auf Anfrage nicht zu den Details des Vorgangs äußern.

BKA ermittelte länger als ein Jahr zum "Boystown"-Administrator

"Boystown" war von 2019 bis zu seiner Abschaltung im April 2021 über das Darknet erreichbar. Pädokriminelle teilten dort Aufnahmen von teils schwerer sexualisierter Gewalt an Kindern, insbesondere von Jungen. Nach mehr als einem Jahr erfolgloser Ermittlungen erhielt das BKA einen Tipp von einer ausländischen Behörde.

Demnach nutzte der Administrator, der sich "Phantom" nannte, einen Telefónica-Mobilfunkanschluss, um sich ins Internet einzuwählen. Daraufhin entwickelte das BKA offenbar den Plan, "Phantom" aus der Gesamtmenge aller Telefónica-Kunden herauszufiltern.

Verdächtiger gefunden

Die Überwachung führte zu Verhaftung und Anklage von Andreas G. aus Nordrhein-Westfalen. Der mutmaßliche "Boystown"-Administrator wurde 2022 vom Landgericht Frankfurt am Main unter anderem wegen bandenmäßiger Verbreitung sogenannter kinder- und jugendpornografischer Inhalte zu mehr als zehn Jahren Gefängnis mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

G. kooperierte nach seiner Festnahme mit den Ermittlern und half mit, dass weitere Hintermänner von "Boystown" festgenommen werden konnten. Weil er ohnehin geständig war, ließ er die breit angelegte o2-Überwachung im Prozess nicht mehr juristisch überprüfen.

Juristen: Gesetzgeber muss "IP-Catching" regeln

Experten forderten gegenüber Panorama und STRG_F, das "IP-Catching" klar gesetzlich zu regeln. Für Ermittlungsbehörden ist es riskant, nicht klar geregelte Methoden einzusetzen. Beschuldigte können damit die Grundlagen ihrer Festnahme gerichtlich überprüfen lassen und im Extremfall einen Prozess platzen lassen.

"Angesichts der Eingriffsintensität dieser Maßnahme, ihrer Streubreite und ihres Missbrauchspotentials braucht es jedenfalls dann eine klare Rechtsgrundlage, wenn das IP-Catching mit einiger Regelmäßigkeit von den Strafverfolgungsbehörden durchgeführt wird", betonte der Rechtswissenschaftler Brodowski.

Benjamin Lück von der Gesellschaft für Freiheitsrechte, ein gemeinnütziger Verein, der sich für die Stärkung von Grundrechten einsetzt, bewertet den Vorgang als "einen tiefgreifenden Eingriff in die Rechte Unbeteiligter", den der Gesetzgeber ausdrücklich regeln müsse. Das "IP-Catching" nähere sich einer "Vorratsdatenspeicherung light" an.

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