Abschiegefängnis Gaziantep
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Türkei Deutsche Erdbebenhelfer vorübergehend inhaftiert

Stand: 04.07.2024 14:38 Uhr

Für ein bayerisches Ehepaar hat ein Türkeiaufenthalt im Abschiebegefängnis geendet. Mitfinanziert werden diese Gefängnisse von der EU. Dass dort menschenunwürdige Verhältnisse herrschen, berichtete das Ehepaar im Interview mit Panorama.

Von Paul Schwenn, Florian Guckelsberger und Zita Zengerling, NDR

Die Türkei zählt zu den Ländern mit den meisten Geflüchteten. Laut UNHCR waren es Ende des vergangenen Jahres 3,3 Millionen Menschen. Doch die Stimmung in der Türkei gegenüber Migranten hat sich in den vergangenen Jahren gewandelt, sie ist zunehmend abweisend bis aggressiv.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan verkündete Ende Juni, die Türkei habe 2023 etwa 150.000 Menschen abgeschoben. Eine entscheidende Rolle dabei spielen rund 30 Rücksendezentren, wie sie offiziell heißen. In diesen Gefängnissen sind in der Regel Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak inhaftiert. Touristen aus Europa wie das deutsche Ehepaar Gabriela und Walter Wimmer erwischt es dagegen so gut wie nie.

Die Wimmers sind in der Türkei im Urlaub, als am 6. Februar 2023 ein Erdbeben der Stärke 7,7 die Türkei erschüttert. Die Erdbebenkatastrophe gilt als eine der schlimmsten in der türkischen Geschichte. Auch in Nordsyrien bebt die Erde. Insgesamt sterben etwa 60.000 Menschen. Das bayerische Ehepaar beschließt, spontan zu helfen.

Visa abgelaufen

Fotos und Videos zeigen die Wimmers, wie sie nach dem Erdbeben im Katastrophengebiet unterwegs sind. Den Transporter, der ihnen vorher nur als Wohnmobil diente, nutzen sie nun, um Hilfsgüter zu verteilen. Auf der Motorhaube brachten sie ein Transparent an, mit einer türkischen und deutschen Flagge in Herzform - sie reichen sich die Hände.

Gabriela und Walter Wimmer

Das Ehepaar Wimmer beschließt spontan, nach dem Erdbeben zu helfen.

Die 90 Tage, in denen sich die Touristen in der Türkei visafrei aufhalten dürfen, sind zu diesem Zeitpunkt abgelaufen. Die Wimmers halten es damals nicht für nötig, sich Visa zu besorgen. Denn das Ehepaar scheint sich nicht mehr als Urlauber zu verstehen, sondern als freiwillige Helfer in einer Ausnahmesituation.

Aus einem Missverständnis wird ein Albtraum. Denn im Dezember nimmt die türkische Polizei sie fest. Am Ende dürfen sie zurück nach Deutschland, aber die rund 40 Tage bis dahin werden die Wimmers nicht vergessen.

Walter Wimmer berichtet, dass ihm die Polizisten nach der Festnahme im Verhör gegen die Schienbeine getreten hätten, später sei er in ein Auto geschleift worden. Seine Frau Gabriela Wimmer ist dabei, bestätigt diese Version. Die türkischen Behörden äußern sich zu den Vorwürfen bis zum Redaktionsschluss nicht.

Menschenunwürdige Verhältnisse

Von der Polizeistation geht es nach Gaziantep, in ein Abschiebegefängnis, etwa 40 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. "Wir waren entsetzt, dass es so menschenunwürdig da drinnen zugegangen ist", sagt Walter Wimmer. Das Gefängnis sei überfüllt gewesen, in der für sechs Personen ausgelegten Zelle seien bis zu 16 Insassen untergebracht gewesen. Eingepfercht "wie die Ratten" hätten sie sich gefühlt.

Was Walter Wimmer außerdem schockiert: Auf den Metallschränken in seiner Zelle entdeckt er Aufkleber, die nahelegen, dass die Europäische Union die Ausstattung mindestens mitfinanziert. Mehrere Mitgefangene bestätigen, die Aufkleber gesehen zu haben.

EU-Gelder für Abschiebegefängnisse

Die Europäische Union finanziert die türkischen Abschiebegefängnisse seit Jahren: Seit 2008 sind etwa 200 Millionen Euro an EU-Geldern in türkische Abschiebegefängnisse geflossen, Teile davon im Rahmen des sogenannten EU-Türkei-Abkommens. Die EU stellte der Türkei 2016 sechs Milliarden Euro in Aussicht. Im Gegenzug verpflichtete sich die Regierung in Ankara dazu, Fluchtrouten zu schließen und Geflüchtete von den griechischen Inseln zurückzunehmen.

Weiß man in Brüssel von den Zuständen in den Abschiebegefängnissen, die man mitfinanziert? Die EU-Gelder hätten zu "einem sichereren und würdigeren Rücksendeprozess" beigetragen, schreibt die EU-Kommission auf Anfrage von Panorama. "Die Kommission hat die türkischen Behörden wiederholt auf die Notwendigkeit der Achtung der Grundrechte hingewiesen", heißt es.

In den Rücksendezentren in Şanlıurfa und Gaziantep fanden nach EU-Angaben im Juni 2023 Kontrollbesuche der EU-Delegation statt. Die Berichte stellte die EU-Kommission Panorama bis zum Redaktionsschluss nicht zur Verfügung. Dazu sei ein gesondertes Prüfverfahren nötig, heißt es zur Begründung.

Berichte von Gewalt

Bei den EU-Geldern für die Abschiebegefängnisse geht es nicht um Touristen wie die Wimmers. Die EU betreibt sogenanntes Migrationsmanagement mit dem Partner Türkei, ein Land, durch das viele Menschen auf ihrem Weg nach Europa flüchten. Es sind Menschen wie Ali. Der Syrer saß im gleichen Zellentrakt wie Walter Wimmer, kann sich an seinen deutschen Mithäftling gut erinnern.  

Inzwischen ist auch Ali entlassen, allerdings unter strengen Auflagen. Er darf die Stadt, in der er lebt, nicht verlassen oder arbeiten. Ali heißt eigentlich anders, aus Angst vor den türkischen Behörden möchte er anonym bleiben. Er berichtet von Gewalt und Folter, von den Schreien eines syrischen Mitinsassen. Ali zufolge werden Inhaftierte dazu gezwungen, einer angeblich freiwilligen Rückkehr zuzustimmen, dafür nehme man Geflüchteten auch Fingerabdrücke ab.

Ali erzählt: "Ein Mann hat sich geweigert, seine Fingerabdrücke abzugeben, selbst nachdem sie ihn verprügelt haben. Also haben sie ihn nochmal mitgenommen und wir konnten seine Schreie hören."

Die türkischen Behörden beantworten die Frage nicht, ob Insassen mit Gewalt dazu genötigt werden, einer angeblich freiwilligen Rückkehr zuzustimmen. Auch zu den anderen Vorwürfen zur Situation in den Lagern sagen sie auf Anfrage bis Redaktionsschluss nichts.

Der Diabetiker Walter Wimmer erleidet nach eigenen Angaben aufgrund der mangelhaften medizinischen Versorgung einen schweren gesundheitlichen Notfall in der Haft. Dennoch glaubt Ali, dass das Lagerpersonal mit den Deutschen noch verhältnismäßig gut umgegangen sei: "Ich vermute, dass sie wissen, wenn sie ihn schlecht behandeln, wird er darüber reden und sie werden bloßgestellt."

Kritik an der EU

Dann trennen sich die Wege von Ali und Walter Wimmer. Das deutsche Ehepaar wird nach rund einem Monat verlegt. Die Zustände im zweiten Abschiebegefängnis in der Provinz Şanlıurfa seien noch schlimmer gewesen. Mitgefangene hätten Walter gar von Suizidversuchen in dem Gefängnis erzählt. So seien etwa angespitzte Zahnbürsten für Selbstverletzungen genutzt worden. Schon 2022 berichteten türkische Medien, dass sieben Pakistanis in dem Abschiebegefängnis versucht hätten, Suizid zu begehen, indem sie Shampoo getrunken hätten.

Nach rund 40 Tagen wird das deutsche Ehepaar schließlich entlassen und abgeschoben, wohl mit Unterstützung der deutschen Botschaft in Ankara. Tausende Geflüchtete sitzen weiter in türkischer Abschiebehaft, fürchten eine Rückführung in Krisen- und Kriegsgebiete. Die Erzählungen der Wimmers zeichnen das Bild eines von der EU mitfinanzierten Asylsystems, in dem Menschenrechte verletzt werden.

Die Migrationsforscherin Valeria Hänsel von Medico International kritisiert die EU-Migrationspolitik, mit der die Abschiebegefängnisse mitfinanziert werden: "Wenn man sagt, dass Menschen anderswo als in der EU Schutz finden und dann werden sie in eine Situation ausgeliefert, wo sie im Gefängnis sitzen und wo sie Folter ausgesetzt sind, dann hat das nichts mit einer menschenrechtsbasierten Migrationspolitik zu tun."

Mitarbeit: Essam Yehia

Mehr zu diesem und anderen Themen sehen Sie heute um 21:45 bei Panorama im Ersten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtet die Sendung "Panorama" 04. Juli 2024 um 21:45 Uhr.