Türkische Flaggen wehen vor dem Stadtbild und dem Galataturm in Istanbul.
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Türkei Exil für Clankriminelle

Stand: 27.06.2023 06:00 Uhr

Die Türkei als Herkunftsland türkisch-arabischer Großfamilien ist Rückzugsort für Clankriminelle und ihre Beute. Dort suchen sie auch die Nähe zur Politik, wie Recherchen von report München und rbb24 Recherche zeigen.

Von Oliver Mayer-Rüth, BR, und Olaf Sundermeyer, rbb

Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul kritisiert die Zusammenarbeit mit der Türkei bei der Kriminalitätsbekämpfung deutlich: "Die Türkei ist eines der schwierigsten Felder", sagte der CDU-Politiker im Gespräch mit dem ARD-Politikmagazin report München und rbb24 Recherche. "Schlimmer als im Moment geht es nicht."

Das zeige sich etwa bei Ermittlungen verdächtiger Finanzströme nach Straftaten von Clankriminellen in Richtung Türkei. Die mangelnde Zusammenarbeit sei "für diese Clanstrukturen sehr hilfreich", sagte Reul. "Die Clanmitglieder kommen von dort und haben dort Partner. Für uns ist es schwer."

Heisem Miri bei der Festnahme durch die türkische Polizei Anfang Oktober 2022

Heisem Miri bei der Festnahme durch die türkische Polizei Anfang Oktober 2022.

Rechtshilfeersuchen bleiben unbeantwortet

Aus verschiedenen Ermittlungsverfahren, in die report München und rbb24 Recherche Einblick hatten, geht hervor, wie Beute aus Straftaten von Clankriminellen in die Türkei gelangt: Über sogenannte Hawala-Netzwerke - illegale Bankensysteme auf Vertrauensbasis - oder versteckt in Autos auf dem Landweg über Bulgarien.

Aus Justizkreisen in der Türkei wird zudem von Flugzeugpassagieren berichtet, die unterhalb der legalen Obergrenze von 10.000 Euro Bargeld transportieren. In einem aktuellen Verfahren sollen Frauen auf diese Weise eine größer Summe Geld in die Türkei gebracht haben. Anschließend hätten sie dort regelmäßig als Gelegenheitsprostituierte an Sexpartys der Kriminellen teilgenommen.

Doch wenn deutsche Behörden Fällen von Geldwäsche oder der Verschiebung von Vermögenswerten nachgehen wollen, stoßen sie immer wieder an Grenzen. Rechtshilfeersuchen an die Türkei blieben meist unbeantwortet, heißt es auf Nachfrage bei mehreren Staatsanwaltschaften.

Abgetaucht in der Türkei

Zudem tauchten zahlreiche mit internationalem Haftbefehl gesuchte Straftäter aus türkisch-arabischen Clans in die Türkei ab, wo sie unbehelligt lebten. Dazu zählt einer der über Jahre meistgesuchten Verbrecher Deutschlands: Heisem Miri. Sein Fall gilt als beispielhaft. 17 Staatsanwaltschaften hatten den Mann, der in Deutschland mit zahlreichen Aliasnamen agierte, über die Jahre zur Fahndung ausgeschrieben.

Er wird verdächtigt, 2009 im Auftrag seiner Familie einen sogenannten Ehrenmord in Schwanewede bei Bremen begangen zu haben. Danach verschwand er. Obwohl Zielfahnder aus Niedersachsen ihn schon vor zehn Jahren in der Türkei ausgemacht hatten, scheiterte seine Festnahme durch die türkische Polizei drei Mal.

Ähnlich schlecht wie NRW-Innenminister Reul bewertete der ehemalige Beauftragte für Clankriminalität beim Landeskriminalamt (LKA) Niedersachsen, Thomas Ganz, die polizeiliche Zusammenarbeit mit der Türkei: "Dort wird auf unsere Anfragen oftmals nicht geantwortet. Wenn einmal Kontakte oder Verbindungen zustande kommen, werden Ermittlungsansätze häufig verraten, nicht weiterverfolgt, oder auch nicht ernst genommen", sagte der Ex-Ermittler.

Kriminelle suchen Nähe zu Politik

Ein türkischer Justizinsider, ein Informant aus dem Clannetzwerk in Deutschland, sowie deutsche Polizeikreise äußerten in Interviews und Hintergrundgesprächen mit report München und rbb24 Recherche die Vermutung, dass es Verbindungen krimineller Clanmitglieder in die türkische Politik gibt.

Das Landeskriminalamt Niedersachsen notierte in seinem Lagebild Clankriminalität ein Treffen eines stellvertretenden Vorsitzenden der Partei des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mit zum Teil schwer kriminellen Mitgliedern eines türkisch-arabischen Clans in Salzgitter - im Jahr 2017.

Clanmitglieder suchen immer wieder die Nähe zu Erdogan selbst, wie Fotos belegen, die report München und rbb24 Recherche vorliegen. So ist der 73-jährige Mohamed M., der als geistiges Oberhaupt des Miri-Clans in Deutschland gilt, auf einem Foto neben Erdogan zu sehen. Ein Verwandter des über Jahre gesuchten Heisem Miri saß bis vor Kurzem im AKP-Ortsvorstand der Hafenstadt Mersin. Dort konnte Miri jahrelang unbehelligt leben. Sie alle stammen aus einem Dorf in der Provinz Mardin.

Millionen Euro in Deutschland abgezockt

Gemeinsam mit anderen Kriminellen aus seinem Clan baute Miri von der Türkei aus in ein Netzwerk von Telefonbetrügern auf. Am Telefon geben sie sich als Polizisten aus, überreden ihre Opfer, ihnen Erspartes und Geld zum Schutz anzuvertrauen.

Eine Umfrage bei 16 Landeskriminalämtern von report München und rbb24 Recherche ergab für diese so genannte Masche der "falschen Polizisten" einen Gesamtschaden von mindestens 120 Millionen Euro seit 2020 in Deutschland bei 150.000 Betrugsversuchen.

13 Jahre nach seiner Flucht wurde Miri schließlich in der Türkei verhaftet, als Kopf einer Betrügerbande. Die türkischen Behörden beschlagnahmten Vermögen im Wert von 30 Millionen Euro. Nach Informationen aus Justizkreisen soll Miri versucht haben, über Familienmitglieder Firmen zu gründen. Andere Clanangehörige kauften für ihn Immobilien.

Clan-Verbindungen zum Bremer Millionenraub

Der Behördenzusammenschluss "Sicherheitskooperation Ruhr Clankriminalität" (Siko Ruhr) in Essen hat dieses Betrügernetzwerk analysiert. Dabei wurde der Clanbezug erst durch eine umfangreiche Identitäts- und Herkunftsrecherche sichtbar, weil es trotz der gemeinsamen Herkunft unterschiedliche Familiennamen gibt.

Eine Fachfrau aus der Ausländerbehörde Essen klärte diese Verbindungen auf. Aus Sicherheitsgründen soll ihr Name nicht genannt werden. "Es ist wichtig zu wissen, wer mit wem verwandt ist, wer welche Geschäfte miteinander macht, wer diejenigen sind, die Geld ins Ausland bringen, die hier vielleicht als Strohleute zur Verfügung stehen, um Immobilien zu kaufen", beschreibt sie ihre Arbeit im Interview.

Bei ihren Recherchen wurden auch Überschneidungen zu anderen Verfahren sichtbar: So gibt es Beziehungen zwischen den Telefonbetrügern aus dem Miri-Clan und dem Fall der mutmaßlichen Millionendiebin Yasemin Gündogan, die vor zwei Jahren mehr als acht Millionen Euro aus einer Geldtransporterfirma in Bremen gestohlen haben soll.

Einer ihrer Fluchthelfer soll einen hohen Beutebetrag der Telefonbetrüger aus Deutschland in die Türkei gebracht haben. Ob über ihn auch der Weg der Millionenbeute aus Bremen lief? Ohne Hilfe der türkischen Behörden führt diese Spur ins Leere, wie bei zahlreichen anderen Straftaten auch.

Fabian Mader, BR, tagesschau, 27.06.2023 06:14 Uhr

Fernsehbeiträge zu diesem Thema können Sie in report München, Dienstag 21.45 Uhr im ERSTEN und in der ARD-Mediathek mit dem Titel "Der Clan-Boss. Eine deutsch-türkische Verbrecherkarriere" ansehen.