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Attentat-Früherkennung Es fehlt noch immer an konkreten Maßnahmen

Stand: 10.01.2025 17:02 Uhr

Schon 2020 hat die Innenministerkonferenz eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe gegründet, um die Früherkennung möglicher Amoktaten zu verbessern. Report Mainz-Recherchen zeigen: Bis heute hapert es in vielen Ländern an der Umsetzung von Maßnahmen.

Von Jana Merkel und Eric Beres, SWR

Mindestens sechs Strafanzeigen, Drohungen auf Social Media, Gefährderansprachen: Immer neue Details zu Taleb A., dem Attentäter von Magdeburg, zeigen: Der Mann war lange vor seiner Tat bei Sicherheitsbehörden bekannt. Die vorliegenden Informationen deuteten auf ein Gefahrenpotenzial hin. Dennoch kam das Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt 2023 zu dem Schluss, von Taleb A. gehe keine konkrete Gefahr aus, weil keine Hinweise auf eine radikale oder extremistische Gesinnung vorgelegen hätten.

Bund-Länder Beratungen seit 2020

Wie mit potenziell gefährlichen Personen umzugehen ist, die nicht eindeutig in die bekannten Kategorien der politisch motivierten Kriminalität (PMK) - rechtsextremistisch, linksextremistisch oder islamistisch - eingeordnet werden können, ist eine Frage, die Politik und Sicherheitsbehörden seit Jahren beschäftigt.

Ende 2020 hat die Konferenz der Innenministerien von Bund und Ländern (IMK) eine Arbeitsgruppe eingerichtet, um das Bedrohungspotenzial von Menschen umfassender und früher zu erkennen. Anlass war damals die Amokfahrt von Trier, die sechs Tote gefordert hatte. Die von Rheinland-Pfalz geführte Arbeitsgruppe "Früherkennung von potenziellen Amokläufern und Attentätern zur Verhinderung von Amokläufen und Anschlägen“ entwickelte Standards und Indikatoren. Die IMK empfahl den Bundesländern, die Vorschläge zwecks möglicher Umsetzung zu prüfen.

2023 wurde eine weitere Arbeitsgruppe eingerichtet, dieses Mal mit dem Titel "Früherkennung und Bedrohungsmanagement". Nach Informationen von Report Mainz hat der Präsident des Bundeskriminalamts, Holger Münch, Ende Dezember in einer nichtöffentlichen Sondersitzung des Innenausschusses des Bundestags Ergebnisse für 2025 angekündigt. Es solle ein ähnliches Früherkennungsprogramm erarbeitet werden, wie es sie bereits für Rechtsextremismus und Islamismus gibt.

Zögerliche Umsetzung

Doch wie haben die Bundesländer bisher Maßnahmen zur Amokprävention und Früherkennung schwerer Gewalttäter umgesetzt? Eine Umfrage von Report Mainz bei allen Innenministerien zeigt: In vielen Bundesländern gibt es offenbar aktuell kein umfassendes Bedrohungsmanagement für solche Fälle. Das Innenministerium Sachsen-Anhalt antwortet auf Anfrage, mit den Überlegungen aus der Bund-Länder-Arbeitsgruppe setze man sich intensiv auseinander. Vergleichbare Konzepte und Maßnahmen hat das Land bisher lediglich für die Bereiche häusliche Gewalt und politisch motivierte Kriminalität eingeführt.

Auch Brandenburg und Niedersachsen geben an, ein Bedrohungsmanagement gebe es nur für Teilbereiche wie etwa häusliche Gewalt. In Berlin und Bremen sind entsprechende Konzepte nach eigenen Angaben in Arbeit. In Sachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein sollen landeseigene Arbeitsgruppen Konzepte erarbeiten. Niedersachsen plant eine Arbeitsgruppe. Thüringen, das Saarland und Mecklenburg-Vorpommern prüfen noch eine Umsetzung der Ergebnisse aus der Bund-Länder-Arbeitsgruppe.

Laut der Umfrage haben Bayern, Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen bereits entsprechende Konzepte umgesetzt. So gibt es in NRW seit 2021 das Projekt "PeRiskoP" ("Person mit Risikopotenzial"). Nach Angaben des dortigen Innenministeriums wurden seit Projektbeginn insgesamt 5.035 Personen im Rahmen von "Prüffällen" erfasst. Ziel sei es, Personen mit Risikopotenzial frühzeitig zu erkennen und langfristig zu stabilisieren, um Taten zu verhindern. Zum 30.11.2024 seien 362 Menschen als Personen mit Risikopotenzial eingestuft gewesen. Doch das Projekt ist nicht unumstritten. Der Bund der Kriminalbeamten (BDK) kritisiert etwa, die Polizei habe auf wichtige Informationen wie Gesundheitsdaten keinen Zugriff.

BDK fordert "schnellstmögliche" Umsetzung

Dass bisher nur wenige Bundesländer konkrete Maßnahmen umgesetzt haben, sieht BDK-Bundesvorsitzender Dirk Peglow kritisch. Er fordert, dass "schnellstmöglich in allen Bundesländern ein harmonisiertes Bedrohungsmanagement" eingeführt wird, das die Empfehlungen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe umsetzt. "Die Qualität des polizeilichen Umgangs mit psychisch auffälligen oder erkrankten Personen mit hohem Gewaltpotenzial und Tatneigung darf nicht weiterhin unter unserer föderalen Polizeistruktur leiden", sagt er.

Ein funktionierendes Bedrohungsmanagement beschreibt der Kriminologe Manuel Heinemann, Fallanalyst und Lehrbeauftragter für Kriminalpsychologie an der Hochschule Fresenius, so:  Alle wichtigen Informationen, die die Polizei erreichen, müssten richtig interpretiert und an die richtigen Stellen weitergeleitet werden. "Es wäre sinnvoll, dass jedes Polizeipräsidium eine eigene Analyseeinheit hat, welche eine umfassendere Bedrohungsanalyse fertigen kann. Zudem ist auf Landesebene eine koordinierende Stelle etwa bei den Landeskriminalämtern nötig, welche die entsprechende Projektfortführung und Weiterentwicklung sicherstellt", sagt Heinemann. Alle Polizeibeamten müssten ein Grundwissen im Bedrohungsmanagement und zur Bedrohungsanalytik bekommen.

Forschungsergebnisse lange bekannt

In der Wissenschaft gibt es seit Jahren Erkenntnisse dazu, wie potenzielle Amoktäter frühzeitig gestoppt werden könnten. Bereits 2016 legte ein interdisziplinärer Forschungsverbund mehrerer Universitäten Forschungsergebnisse dazu vor. Die Wissenschaftler des Projekts TARGET hatten drei Jahre lang zahlreiche Amoktaten und -drohungen untersucht, um Ursachen zu ermitteln und Schlüsse für Prävention zu ziehen.

Sie listeten eine Reihe von Kriterien und Warnsignalen auf, die zur Einschätzung der Gefährlichkeit einer Person herangezogen werden könnten. Im Abschlussbericht empfahlen die Forscher ausdrücklich die Einführung eines systematisches Bedrohungsmangements im Umgang mit möglichen Amoktätern. In anderen Staaten gibt es das längst. In der Schweiz wurde ab 2013 das sogenannte kantonale Bedrohungsmanagement eingeführt.

Eine der Autorinnen der TARGET-Studie ist die Kriminologin Britta Bannenberg von der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Sie betreibt seit 2015 das Beratungsnetzwerk Amokprävention. Dort beraten sie und ihre Kollegen besorgte Menschen und geben auf Wunsch Hinweise an die Polizei weiter. Der polizeiliche Umgang mit solchen Hinweisen sei ihrer Erfahrung nach sehr unterschiedlich und hänge häufig vom einzelnen Beamten ab.

Es brauche jedoch innerhalb der Polizei eine klare Zuständigkeit von Fachleuten und eine Zusammenarbeit zwischen Polizei und anderen Behörden. "Netzwerkbildung, Fallkonferenzen, Informationsaustausch", das sei die Lösung, meint Bannenberg. Informell klappe das teilweise gut, teilweise gar nicht. Nicht zuletzt müsse die Polizei auch die Psychiatrie hinzuziehen, damit Fachärzte einschätzen, wie hoch das Risiko für eine Fremdgefährdung ist. "Hier sind auch Richter gefragt, die möglicherweise eine zeitweise Zwangseinweisung anordnen müssen, aber es braucht auch mehr Ressourcen und Personal in den Psychiatrien", so die Kriminologin.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 09. Januar 2025 um 13:33 Uhr.