Schattenrisse von Menschen in einer gewalttätigen Situation
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Stalking und Partnerschaftsgewalt Wenn Männer zu Opfern werden

Stand: 08.10.2024 06:07 Uhr

Auch Männer erleben Stalking und Beziehungsgewalt. Doch Beratungsstellen und Schutzhäuser speziell für Männer gibt es in Deutschland kaum. Rund drei Viertel der Deutschen sind laut einer Vollbild-Umfrage für mehr Beratungs- und Hilfsangebote.

Von Sonja Peteranderl, SWR

"Nach der Uni hat sie mir öfter aufgelauert, meine Hand geschnappt und mir in der Öffentlichkeit an den Arsch gegrabscht", sagt Max, der im Großraum Stuttgart lebt und eigentlich anders heißt. Er sei nach der Trennung von seiner Ex-Freundin gestalkt worden, erzählt er im Interview mit dem SWR-Investigativformat Vollbild.

Schon während der Beziehung habe sie ihn kontrolliert, beleidigt und geohrfeigt. Jedes Mal, wenn sie sich getroffen hätten, habe sie sein Smartphone kontrolliert, seine Nachrichten und Fotos durchstöbert. "Ich habe mich sehr nackt gefühlt", sagt Max. "Ich hatte Angst, was Falsches zu tun, irgendwas zu machen, was sie verärgern könnte, sie mir danach eine Strafe gibt."

Männer sind bei Stalking und Beziehungsgewalt in den meisten Fällen die Täter. Doch wie Vollbild-Recherchen zeigen, sind auch in Deutschland viele Männer von Cyberstalking, Stalking und Beziehungsgewalt betroffen.

2023 erfasste das Bundeskriminalamt knapp 170.000 Fälle von Beziehungsgewalt in Deutschland. Fast 80 Prozent der Betroffenen waren Frauen, rund 20 Prozent Männer, also immerhin jede fünfte von Gewalt betroffene Person.

Netflix-Serie macht Problem sichtbar

Die britische Netflix-Erfolgsserie "Baby Reindeer", die kürzlich mit sechs Emmys ausgezeichnet wurde, macht das Problem sichtbar: Ein junger Mann wird von einer Frau gestalkt und von einem Mann vergewaltigt. In Großbritannien löste die Mini-Serie einen sogenannten "Baby-Reindeer"-Effekt aus: Mehr junge Männer wandten sich an Beratungsstellen für gewaltbetroffene Männer.

In Deutschland existieren zu wenige Beratungsstellen für männliche Betroffene von Beziehungsgewalt, um einen ähnlichen Effekt nachzuweisen. Dennoch könnte die Serie auch deutschen Betroffenen helfen: "Im Grunde ist uns jede mediale Darstellung, jeder Bericht, jede Serie sehr recht, weil wir wissen, das führt dazu, dass Leute anfangen, darüber zu reden und merken, dass sie Ähnliches erlebt haben", sagt der Psychologe Björn Süfke, der das Hilfetelefon "Gewalt an Männern" mit aufgebaut hat.

Das 2020 gegründete Hilfetelefon ist eine der wenigen Beratungsstellen in Deutschland, die sich speziell an gewaltbetroffene Männer richten. Mehrere Tausend Männer wenden sich jährlich an die Hotline - weil sie in Beziehungen kontrolliert, gestalkt, bedroht oder geschlagen werden. Manche erzählen auch von sexualisierten Übergriffen.

Traditionelle Rollenbilder

Doch nur ein Bruchteil der Männer, die Beziehungsgewalt erleben, wendet sich an Beratungsstellen oder Polizei. Traditionelle Rollenbilder verhindern oft, dass Männer Hilfe suchen und Unterstützung bekommen - das kann Beziehungsgewalt gegen Männer unsichtbar machen. "Sich als Opfer zu definieren, ist wie ein Einschnitt in die eigene Männlichkeit", sagt Süfke. "Du Opfer" sei heute das "schlimmste Schimpfwort auf Schulhöfen".

"Männer benötigen zumindest gefühlt einen längeren Leidensdruck als Frauen, bis sie sich dazu durchringen, Anzeige zu erstatten", beobachtet das Landeskriminalamt Sachsen. Doch auch Polizeien sind noch nicht genug für männliche Betroffene von Gewalt sensibilisiert, wie Interviews der Redaktion Vollbild mit Betroffenen und Experten belegen.

Ungläubige Reaktion der Polizei

Auch Clemens berichtet im Interview, er sei von seiner Ex-Freundin geschlagen worden. Einmal sei es so heftig gewesen, dass er die Polizei rufen wollte. Seine Freundin habe gesagt: "Ja, mach doch, was glaubst du denn, wem die eher glauben, dem großen breiten Kerl oder dem kleinen süßen Mädchen?" Als Clemens später doch noch eine Anzeige gegen sie stellen wollte, habe ein Polizist ungläubig reagiert, als er erfahren habe, dass der Täter eine Frau sein soll, erzählt Clemens.

Das Hilfetelefon "Gewalt an Männern" soll eigentlich nur eine erste Anlaufstelle sein. "Viele Männer brauchen natürlich weitergehende Beratung oder eben Schutz", sagt Süfke. "Dann müssen wir ganz oft sagen: Die nächste Möglichkeit ist 300 Kilometer entfernt." Derzeit existieren in ganz Deutschland nur ein Dutzend Männer-Schutzwohnungen, in die sich Betroffene von Stalking oder Beziehungsgewalt flüchten können mit insgesamt nur Plätzen für 43 Männer. "Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein", sagt Süfke.

Mehrheit für mehr Aufklärung

Im Auftrag von Vollbild hat Infratest dimap exklusiv in einer repräsentativen Umfrage die Deutschen zum Thema Stalking und häusliche Gewalt gegen Männer befragt. Die Ergebnisse sind überraschend deutlich: 72 Prozent der Deutschen sind der Ansicht, das Thema Stalking und häusliche Gewalt gegen Männer werde nicht ernst genug genommen. 75 Prozent finden, es bräuchte mehr Aufklärung und Information sowie mehr Hilfs- und Beratungsangebote.

"Derzeit existieren weder für gewaltbetroffene Frauen noch für gewaltbetroffene Männer ausreichend Unterstützungsangebote", bestätigt auch das Bundesfamilienministerium auf Anfrage von Vollbild. Dem Ministerium zufolge soll daher das sogenannte Gewalthilfegesetz auf den Weg gebracht werden, drei Millionen Euro seien für 2025 für Präventionsmaßnahmen eingeplant.

"Das Gewalthilfegesetz klingt gut, aber dafür muss auch Geld in die Hand genommen werden, sonst hilft das nichts", kritisiert Asha Hedayati, Anwältin für Familienrecht. Sie sagt: "Drei Millionen sind nichts, das ist absurd."

Hilfetelefone für Männer unterbesetzt

Auch beim Hilfetelefon "Gewalt an Männern" kommt es vor, dass Männer in Not niemanden erreichen. Der Hotline fehlt es Björn Süfke zufolge an Geld und an Beratern. Es gibt nur eine Leitung - die ist nur tagsüber unter der Woche besetzt. "Die Kolleginnen vom Hilfetelefon 'Gewalt gegen Frauen' haben uns schon berichtet, dass sie das deutlich merken am Wochenende und abends, dass wir nicht besetzt sind, weil dann die Männer in Ermangelung einer Anlaufstelle beim Hilfetelefon 'Gewalt gegen Frauen' anrufen“, sagt Süfke.

Auch als Clemens versucht habe, Beratungsstellen anzurufen, seien diese alle besetzt gewesen. "Man fühlt sich machtlos", erzählt er. "Man fühlt sich allein gelassen und hat das Gefühl, durch das System durchgefallen zu sein."

Mehr Männer äußern sich öffentlich

Die Initiative "Was los mit dir" von "Krisenchat", einem Beratungsdienst für junge Menschen, versucht Jungen und Männer dort zu erreichen, wo sie sich aufhalten: Auf Plattformen wie Twitch oder Youtube oder auf Veranstaltungen wie der Computerspielemesse Gamescom. Das junge Team arbeitet auch mit Youtubern und Influencern zusammen, die öffentlich über Gefühle, Depressionen, Suizidgedanken oder Stalking sprechen. "Das hat sich in den letzten Jahren wirklich stark verändert, immer mehr Leute sind öffentlich gegangen", sagt der Psychologe Elias Jessen von Krisenchat. "Das ist für uns auch etwas, was uns sehr viel Mut macht, wo wir einhaken wollen."

Das Krisenchat-Team will Tabus brechen, Männer dabei unterstützen, sich zu öffnen. Max erzählt, er habe während seiner Gewaltbeziehung keinem seiner Freunde davon erzählt. Erst nach drei Jahren habe er es geschafft, den Kontakt zu seiner Ex-Freundin abzubrechen. Zuvor habe er das Gefühl gehabt, der Frau einfach ausgeliefert zu sein. "Wenn ich flüchte, war ich in ihren Augen ein Weichei", erzählt er. "Wenn ich nicht geflüchtet bin und zurückgeschlagen hätte, dann hätte ich eine Klage am Hals, zu Recht."