Prozess zum Tiergartenmord Dem Täter auf den Fersen
War der russische Staat an einem Mord mitten in Berlin beteiligt? Vier Verhandlungstage lang drehte sich beim Tiergartenmord-Prozess alles um diese Frage und einen Zeugen - einen Journalisten.
Ist der Angeklagte ein Offizier des russischen Geheimdienstes FSB oder wurde er zumindest angeheuert, um zur Mittagszeit am 23. August 2019 mitten in Berlin den Tschetschenen Zelimkhan Khangoshvili aus Georgien zu erschießen? Sitzt also der russische Staat, wenn auch unsichtbar, mit auf der Anklagebank vor dem Staatsschutzsenat des Berliner Kammergerichts?
An vier Verhandlungstagen stand diese Frage nun im Mittelpunkt. Geladen war nur ein Zeuge, ein Journalist der Rechercheorganisation Bellingcat. Mit Kollegen hatte er seit dem Mord Hunderte Daten zusammen getragen.
Der Zeuge beschrieb sorgfältig, wie er und seine Mitstreiter dem mutmaßlichen Täter und dessen Verbindungen zum russischen Geheimdienst FSB auf die Spur kamen. Er korrigierte sich, lieferte Daten nach und blieb geduldig, als sich die detaillierten Fragen der Richter, der Generalbundesanwaltschaft und Anwälte um die immer gleichen Aspekte drehten. Aus ihrem Insistieren ist abzulesen, wie viel Bedeutung sie den Daten für das Urteil beimessen.
Im Visier der russischen Behörden
Ebenso wichtig war die Glaubwürdigkeit des Zeugen selbst, der aus Sicherheitsgründen nur als G. und in Begleitung von Sicherheitsbeamten auftrat. Vor dem Gerichtssaal wachte zudem eine schwer bewaffnete Sondereinheit der Polizei.
Als Strafverteidiger Robert Unger auf der Identität des Zeugen, seiner Kollegen und Quellen insistierte, verwies G. darauf, dass in Russland mehrere seiner Quellen festgenommen worden seien. Zwei Tage nach G.s Aussage wurde einer seiner Kollegen am Moskauer Flughafen Scheremetjewo verhört und ihm während dieser Zeit die Mobiltelefone weggenommen. 20 Minuten lang hätten die Beamten absurde Fragen zum Lockdown in Österreich gestellt, so der Kollege. "Es ist also offensichtlich, dass der einzige Grund für die Verhaftung der Versuch ist, Zugang zu den Telefonen zu erhalten", so der Journalist von "The Insider", der in Kooperation mit G. Recherchen vor Ort in Russland durchführt.
Wo das Rechtssystem versagt
Auf die Frage nach seiner Motivation für die aufwändigen Recherchen sprach G. von einer Lücke im internationalen Rechtssystem, die er füllen wolle: Häufig werde nicht ermittelt, wenn Staaten grenzüberschreitende Verbrechen unterstützten - Rechtshilfegesuche würden nicht beantwortet. Die meisten grenzüberschreitenden Verbrechen in Europa begehe Russland. Das erkläre die hohe Zahl der Recherchen zu diesem Land.
Der Vorsitzende Richter Olaf Arnoldi gab zu bedenken, dass G. doch zumindest in Russland Recht breche, wenn er Beamte für Informationen zahle. Auch in Russland gelte der Vorrang öffentlichen Interesses an der Wahrheit vor privaten Rechten, antwortete G. Das Risiko für die Informationsgeber sei dann gerechtfertigt, wenn die Gesellschaft durch Straftaten der Behörden in Gefahr sei.
Zu seiner Finanzierung gab er an, nicht von Bellingcat bezahlt zu werden, sondern von Einnahmen aus Investitionen in Medien zu leben. Bei seinen Informanten achte er darauf, sie nicht bei der Datensuche zu beeinflussen. Gelder zahle er nach Risiko und nicht nach Ergebnis. Eine Steuerakte sei für 20 Euro, Metadaten von Mobiltelefonen für 200 Euro zu bekommen.
G. beschrieb, wie er der Person des Täters mit beharrlicher Suche auf die Spur kam. Er nutzte Meldedaten russischer Städte, die in den vergangenen Jahren geleakt worden waren, Telefonnummern-Rückwärtssuchen, daneben zahlreiche geschlossene Datenbanken unter anderem zu Pass- und Steuerakten sowie Reisedaten - die Sammelwut russischer Behörden und mangelnder Datenschutz erlauben vielfältige Einblicke in das Leben der Menschen in Russland.
Wie eine Scheinidentität entsteht
G. ging davon aus, dass es sich beim Namen des Beschuldigten Vadim Sokolov um eine Scheinidentität handelte. Der FSB nutze dazu meist ein bestimmtes Verfahren: Der Vorname werde beibehalten, das Sternzeichen ebenso - weil es im russischen Alltag wichtig sei. Das Geburtsdatum werde oft um ein Jahr zurückdatiert. Die Daten fänden sich in offiziellen Dokumenten und Akten, die oft aber keinen vollständigen Lebenslauf belegten.
Allerdings wurden G. und seine Mitstreiter lange nicht fündig. Erst als sie das Geburtsjahr weiter verschoben und in den Medien nach Verbrechen suchten, die ähnlich wie der "Tiergartenmord" begangen worden waren, stießen sie auf Vadim Krasikov. Morde in den Jahren 2007 und 2013 sowie eine Fahndung sind mit diesem Namen verbunden. Ein Gesichtsabgleich überzeugte G.: Sokolov ist Krasikov. Ähnlich ging das Berliner Landeskriminalamt vor, es fand ein internationales Fahndungsfoto und ließ es ebenfalls vergleichen.
Verbindung zu FSB und Vympel
Wo Krasikov in den Monaten vor der Tat war, rekonstruierte G. hauptsächlich anhand der Metadaten seines Mobiltelefons. Die Nummer machte er allerdings erst über dessen Frau ausfindig, weil sie nirgendwo verzeichnet war. G. fand heraus, dass sich Krasikovs Mobiltelefon mehrfach nahe hochgesicherter Einrichtungen des FSB und der Sondereinheit V beziehungsweise Vympel aufhielt, mit der Veteranenverbände und Firmen verbunden sind. Die Anrufliste des Telefons verzeichnete Kontakte zu FSB-Offizieren.
Einer sei zwei Wochen vor der Tat für einige Tage in die EU gereist und habe unter dem Namen Roman Davydov zur gleichen Zeit wie die Person Sokolov einen Antrag für ein Schengen-Visum in St. Petersburg gestellt - und dabei den gleichen Arbeitgeber, einen ähnlichen Beruf und eine ähnliche Passnummer angegeben. Nach der Rückkehr habe er sich Telefon- und Fahrzeugdaten zufolge mit Krasikov getroffen und sei mit ihm in eine FSB-Einrichtung gefahren.
Auch für die Zeit nach der Tat fand G. auffällige Metadaten für das Handy Krasikovs, das bei seiner Frau geblieben sei: Nachdem Bellingcat Krasikov identifiziert hatte, telefonierte sie mit einem FSB-Agenten, der sie auf die Halbinsel Krim begleitete - ersichtlich nach Angaben G.s aus Telefon- und Reisedaten. Dorthin sei sie mit einer neuen Identität nach dem bekannten Muster gereist.
Es bleibt die Frage der Beweiskraft
G.s Daten belegen die Vorgänge zumeist indirekt. Doch G. ist überzeugt: In ihrer Gesamtheit lassen sie die Schlussfolgerung zu, dass der russische Staat hinter dem Mord im Kleinen Tiergarten steht. Richter Arnoldi und Strafverteidiger Unger allerdings betonten, dass bei einen Gerichtsprozess, zumal bei einem Kapitalverbrechen, strenge Regeln für die Beweisanerkennung gelten.
Unger bemängelte, dass G. nur unbekannte Quellen zitiert habe. Das Gericht könne die Angaben nicht prüfen und feststellen, ob die Informationsgeber möglicherweise eigene Ziele verfolgt hätten, teilte Unger tagesschau.de mit. Der Zeuge habe an vielen Stellen zugeben müssen, dass er nur Vermutungen geäußert habe oder seine Schlussfolgerungen auch unzutreffend sein könnten. So sei unklar, ob eine Passakte zur Persona Sokolov nicht vorhanden sei oder ob G. nur keinen Zugang bekommen habe. "Nach allem sind die Angaben des Zeugen G. nach meiner Überzeugung ungeeignet, um hierauf in einem Strafprozess sichere Feststellungen treffen zu können", so Unger.
Die Nebenklägervertreterinnen hingegen heben hervor: "Der Großteil der Aussagen und Unterlagen des Zeugen G. konnte durch die deutschen Ermittlungsbehörden überprüft und bestätigt werden, teils mit Unterstützung ausländischer Ermittlungsbehörden." Das Berliner Landeskriminalamt habe ganz unabhängig vom Zeugen G. ermittelt, dass Sokolov und Krasikov eine Person seien. Davon abgesehen sei der Zeuge gemäß der Strafprozessordnung berechtigt, Angaben zu seinen Quellen zu verweigern, um sie zu schützen. In der Gesamtschau bleibe nur ein Schluss: "Der Mord an Herrn Khangoshvili erfolgte im Auftrag des russischen Staates durch Angehörige russischer Sicherheitsbehörden."
Das Gericht wird sein Urteil voraussichtlich Ende April fällen.