Tiergartenmord-Prozess Vergiftungsgefahr im Gefängnis?
Seit Oktober steht ein russischer Bürger wegen des Mordes an einem tschetschenischen Georgier vor Gericht. Nun stellt sich heraus: Es gab Hinweise, dass der Beschuldigte vergiftet werden sollte.
Der Mord am Georgier Selimchan Changoschwili im Kleinen Berliner Tiergarten lag knapp drei Monate zurück, als Ermittler der Berliner Polizei den Tatverdächtigen am 18. November 2019 aufsuchten. Dazu fuhren sie jedoch nicht ins Gefängnis, sondern in das Justizvollzugskrankenhaus. Das berichtete einer der Polizeikommissare bei seiner Zeugenaussage vor dem Berliner Kammergericht, das den Fall seit Anfang Oktober verhandelt.
Der Grund für die Verlegung des Beschuldigten in das Krankenhaus sei nicht dessen Gesundheit gewesen. Er sei vielmehr angesichts einer "Gefährdungslage" zu seinem Schutz dorthin gebracht worden, erklärte der Ermittler: Ein deutscher Geheimdienst habe einen Hinweis gegeben, dass der Beschuldigte vergiftet werden sollte, bevor er den Behörden Angaben machen könne. Der Staatsanwalt beim Bundesgerichtshof, Lars Malskies, bestätigte später einen "nachrichtendienstlichen Hinweis" auf eine Vergiftungsgefahr.
Verschärfte Sicherheitsvorkehrungen: Der Angeklagte sitzt, von einer Glasscheibe geschützt, hinter seinen drei Anwälten.
Angeklagter gibt sich anteilnahmslos
In dem Prozess geht es nicht nur darum, ob der Angeklagte den Mord begangen hat. Geprüft wird auch, ob er "im Auftrag von staatlichen Stellen der Zentralregierung der Russischen Föderation" handelte. Deshalb ist die Frage, ob aus dem Hinweis auch Informationen über etwaige Auftraggeber hervorgehen.
Das Thema Vergiftung spielt bei mehreren Angriffen auf abtrünnige Agenten und Gegner der russischen Regierung eine Rolle, zuletzt beim Kreml-Kritiker Alexej Nawalny. Er wurde nach Erkenntnissen der Bundesregierung und dreier internationaler Labore mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet.
Zumindest stellt der Hinweis die Argumentation des Angeklagten in Frage. Er besteht darauf, lediglich als Tourist namens Vadim Sokolov in Berlin gewesen zu sein. Die Nachricht von der Vergiftungsgefahr habe den Beschuldigten wenig interessiert, erinnerte sich der Polizeikommissar vor Gericht. Auch bei diesen Worten zeigte sich der Angeklagte so anteilnahmslos wie die meiste Zeit während der Verhandlung.
Der Ermittler beschrieb den Russen als "redebereit", ohne dass er allerdings nachvollziehbare Angaben zu seiner Unterkunft in Berlin und seinen Angehörigen gemacht habe. Mit dem Mordvorwurf konfrontiert, sagte der Beschuldigte laut Gesprächsvermerk: "Den Terroristen, der sich hier befunden hat, habe ich nicht vernichtet."
Wahlverteidiger Robert Unger stellt infrage, dass diese Aussagen für die Beweisführung verwendet werden dürfen: Die Ermittler hätten den Beschuldigten ohne Anwalt befragt - obwohl er darauf bestanden habe, einen Rechtsbeistand von der russischen Botschaft gestellt zu bekommen. Erklären konnte Unger nicht, warum die russische Vertretung diesem Wunsch nicht nachkam. Dabei hatten zwei Konsularbeamte den Beschuldigten kurz nach dessen Verhaftung im Gefängnis besucht und die Botschaft auf Wunsch eine Kopie seines Reisepasses auf den Namen Sokolov erhalten.
Dieser Pass ohne biometrische Daten war 2015 ausgestellt worden. Das war zwei Monate, nachdem die russischen Behörden die internationale Fahndung nach einem Vadim Krasikov beendet hatten. Dieser soll 2013 einen russischen Geschäftsmann erschossen - und sich dem Opfer wie beim Mord im Kleinen Tiergarten mit einem Fahrrad genähert haben. Gesichtsgutachter verglichen das damalige Fahndungsfoto von Interpol mit einem Bild des in Berlin Festgenommen. Eine Zeugenaussage dazu vor Gericht steht noch aus.
Name des Opfers auf einer Geheimdienstliste
Bei der Aufklärung des Falls zeigte sich Russland wenig kooperativ. Auch gab es Widersprüche: So behauptete Präsident Wladimir Putin Anfang Dezember 2019, Russland habe seit Jahren die Auslieferung Changoschwilis gefordert. Nach einem Dementi der Bundesregierung ruderte Putin zurück. Die russische Staatsanwaltschaft habe nie einen formalen Auslieferungsantrag gestellt. Deutschland sei auf Geheimdienstebene auf den Mann angesprochen worden. Eine Klarstellung einer Ermittlerin des Bundeskriminalamtes (BKA) dazu ließ der Vorsitzende Richter Olaf Arnoldi anhand von Zeitungsartikeln untermauern.
Tatsächlich übergab der russische Geheimdienst FSB dem BKA nach Angaben der Ermittlerin im Jahr 2012 eine Liste mit 19 angeblichen Mitgliedern der islamistischen Terrororganisation "Kaukasisches Emirat", unter ihnen Changoschwili. Außer ihm sind mindestens drei weitere Männer auf der Liste inzwischen tot und weisen Verbindungen zum ermordeten Georgier auf.
Der Terrorist Achmed Tschatajew tötete sich 2017 bei einem Polizeieinsatz in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Tschatajew war bei einem Zwischenfall im Jahr 2012 dabei. Dabei versuchte Changoschwili, zwischen georgischen Sicherheitskräften und Kämpfern zu vermitteln, die sich in einem Kaukasus-Tal verschanzt hatten.
Timur Machauri wurde 2017 in Kiew bei der Explosion einer Autobombe getötet. Mit ihm kämpfte Changoschwili im Zweiten Tschetschenienkrieg. Beide lebten einige Zeit in der Ukraine.
Verbindung zu einem Komplizen?
Abdulwahid Edelgirijew wurde 2015 in Istanbul erschossen. In diesem Fall gibt es Auffälligkeiten bei zwei mutmaßlichen Mittätern - russischen Staatsbürgern. Die Nummern und Gültigkeitszeiträume ihrer Reisepässe weisen Parallelen zum Pass einer Person namens Roman Davydov auf. Er könnte als Komplize für die Tat in Berlin infrage kommen.
Zumindest liegen nach Angaben der BKA-Ermittlerin Daten darüber vor, dass er zweieinhalb Wochen vor der Tat nach Polen ein- und einige Tage später wieder ausgereist ist. Zudem wiesen seine Angaben und die Daten Sokolovs in den Anträgen beider für Schengen-Visa "starke Parallelen" auf - angefangen von der Passnummer über den Ausstellungsort bis zu Arbeitgeber und Beruf, wie die BKA-Ermittlerin vor Gericht aussagte.
Es ist davon auszugehen, dass der mutmaßliche Täter Komplizen hatte. Er reiste erst einen Tag vor der Tat von Polen nach Berlin. In diesen höchstens 24 Stunden kann er kaum allein den Tatort und den Fluchtweg ausgekundschaftet sowie Fahrrad, E-Roller und Pistole besorgt haben. Diese weisen auffällig wenige Hinweise über ihre Herkunft auf. Auch darüber, wo er vor der Tat in Berlin war, liegen bis heute keine Informationen vor.
Das Urteil gegen den Angeklagten wird im Frühjahr erwartet. Zu möglichen Mittätern führt der Bundesgerichtshof ein gesondertes Ermittlungsverfahren.