Eine Gruppe Männer trägt einen Leichensack durch eine Wüste.
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Vorwürfe gegen Tunesiens Sicherheitskräfte Die Bundesregierung bleibt Antworten schuldig

Stand: 01.11.2024 06:19 Uhr

Vor einem halben Jahr kündigte die Bundesregierung an, Vorwürfe gegen von Deutschland unterstützte tunesische Sicherheitskräfte zu prüfen. Doch während auch danach weiter Migranten in der Wüste ausgesetzt wurden, bleibt Berlin Antworten schuldig.

Von Philipp Grüll und Erik Häußler, BR, Mitarbeit: José Bautista, Andrei Popoviciu

Drei Jeeps sind am Horizont in der Sahara zu sehen. Sie nähern sich einem Posten libyscher Grenzschützer. Auf den Ladeflächen sitzen Männer, die wenige Stunden zuvor an der tunesisch-libyschen Grenze aufgegriffen wurden, nachdem sie ohne Wasser und Nahrung in der Sahara umhergeirrt waren.

"Sie kamen nachts und setzten uns an der Grenze in der Wüste aus", sagt einer von ihnen. "Sie schlugen uns und zwangen uns zu laufen", erzählt der aus dem Sudan stammende Mann im ARD-Interview. "Sie sagten, wenn wir zurückkommen, würden sie auf uns schießen".

Deutsches Steuergeld für tunesische Sicherheitskräfte

Mit "sie" meint er tunesische Sicherheitskräfte. Einheiten der Nationalgarde und der Grenzpolizei, die seit Jahren mit Millionen an deutschem Steuergeld unterstützt werden - für Ausrüstung wie Fahrzeuge oder Nachtsichtgeräte sowie für die Ausbildung durch deutsche Bundespolizisten. Diese haben seit 2015 rund 4.000 tunesische Beamte geschult, wie das Bundesinnenministerium auf Anfrage des Bayerischen Rundfunks (BR) mitteilt. 33 Millionen Euro seien bislang dafür aufgewendet worden.

Ein Soldat blickt durch sein Fernglas.

Ein libyscher Grenzschützer hält Ausschau nach Migranten.

"Gegebenenfalls Konsequenzen ziehen"

Im Mai 2024 erweckte der Sprecher des Bundeskanzlers, Steffen Hebestreit, in der Bundespressekonferenz den Eindruck, die Zusammenarbeit mit den tunesischen Behörden werde wegen der möglichen Menschenrechtsverletzungen auf den Prüfstand gestellt. Einen Tag zuvor hatte ein internationaler Rechercheverbund aus BR, Lighthouse Reports, Der Spiegel, El País, Washington Post und anderen internationalen Medien öffentlich gemacht, dass tunesische Sicherheitskräfte systematisch Schwarze Menschen ohne Wasser und Nahrung in der Wüste aussetzen.

Es sind jene Einheiten, die von Deutschland mitfinanziert werden. "Wir hatten selber keine eigenen Erkenntnisse dazu", sagte Hebestreit damals in der Bundespressekonferenz. "Insofern müssen wir das jetzt prüfen und gegebenenfalls Konsequenzen ziehen."

Bundesregierung bleibt Antworten schuldig

Doch als Hebestreit Mitte September erneut nach dem Stand der Untersuchung gefragt wird, antwortet der Regierungssprecher: Er wisse, dass dies "mal ein Thema" gewesen sei, bisher sei es ihm aber nicht wieder begegnet, und es gebe keine Vorbereitung dazu. Dabei hatte der BR wenige Tage zuvor bei Hebestreits Behörde, dem Bundespresseamt, nachgefragt, was aus der Untersuchung geworden ist.

Das Bundespresseamt leitete die Anfrage an das Bundesinnenministerium weiter. Doch ob es eine Untersuchung gab, welches Ergebnis diese gegebenenfalls brachte und ob Konsequenzen gezogen wurden - all diese Fragen blieben unbeantwortet. Das Ministerium teilte lediglich allgemein mit, die Bundesregierung habe gegenüber "den tunesischen Partnern" wiederholt deutlich gemacht, dass bei der Kooperation humanitäre Standards und die Menschenrechte von Migrantinnen und Migranten zu respektieren seien.

Die Bundesregierung weise zudem mit Nachdruck darauf hin, dass die im Rahmen der bilateralen Zusammenarbeit übergebene Ausstattung ausschließlich für den vorgesehenen Zweck zu verwenden sei.

"Zusammenarbeit mit brutaler Nationalgarde sofort beenden"

Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Julian Pahlke fordert, Bundesinnenministerin Nancy Faeser müsse "die Zusammenarbeit mit der brutalen Nationalgarde sofort beenden". Die Berichte im Mai seien erschütternd gewesen. "Wir hatten erwartet, dass die Vorwürfe wie angekündigt untersucht werden”, sagt der Grünen-Politiker. "Das Innenministerium darf nicht den kleinsten Verdacht aufkommen lassen, dass das Aussetzen von Menschen in der Wüste mit deutscher Finanzierung oder Billigung erfolgt. Für so etwas gibt es keine Toleranz."

Auch EU-Kommission mauert

Nicht nur die Bundesregierung, auch die Europäische Kommission mauert, wenn es um Menschenrechtsverletzungen durch EU-finanzierte Sicherheitskräfte in Tunesien geht. Vor Kurzem kritisierte die Ombudsfrau des Europäischen Parlaments, Emily O'Reilly, dass sich die Kommission weigere, die Ergebnisse einer Untersuchung zur Achtung der Menschenrechte in Tunesien zu veröffentlichen.

Die Untersuchung hatte die Kommission durchgeführt, bevor sie mit der Regierung Tunesiens ein Migrationsabkommen schloss, das dieser rund eine Milliarde Euro bringt. Ombudsfrau O'Reilly sprach von zutiefst verstörenden Berichten, die sie erreicht hätten. Sie wirft der EU-Kommission mangelnde Transparenz vor und fordert klare Kriterien, um die Zahlungen von EU-Geldern im Falle von Menschenrechtsverletzungen auszusetzen.

Weiterer Fall in Mauretanien

Unterdessen wurde aus Mauretanien ein Fall bekannt, der die Zusammenarbeit der EU mit afrikanischen Sicherheitskräften zur Eindämmung der Migration ebenfalls in ein schlechtes Licht rückt. In dem Land, dessen Regierung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez Anfang des Jahres Hunderte Millionen Euro zugesagt bekam, haben offenbar Polizisten mit Schleppern zusammengearbeitet.

Nach Angaben der Behörden wurden elf Beamte festgenommen, weil sie mit Schleppern gemeinsame Sache gemacht haben sollen. Die festgenommenen Beamten gehörten ausgerechnet jener Einheit an, auf die spanische Polizisten setzten, um die Migration auf die Kanarischen Inseln zu begrenzen. Auch in Mauretanien werden den Recherchen von BR, Lighthouse Reports und Spiegel zufolge Migranten am Rande der Sahara ausgesetzt.

Experten sehen Mitschuld Europas

Experten warnen, dass sich die EU an Menschenrechtsverletzungen mitschuldig mache: "Die Deportationen in die Wüste gäbe es nicht ohne das Geld der EU", sagt Ahlam Chemlali vom Dänischen Institut für Internationale Studien.

Der deutsche Migrationsforscher Gerald Knaus kritisiert: "Wir müssen doch die Verantwortung übernehmen dafür, dass, wenn wir ein Land bitten, Menschen zu stoppen, müssen wir uns überlegen: Wie wird das gemacht?" Die derzeitige Politik der EU nehme nicht nur Gewalt in Kauf, sondern verlasse sich sogar darauf.

Die ARD-Dokumentation "Ausgesetzt in der Wüste - Europas tödliche Flüchtlingspolitik" ist ab 1. November in der ARD-Mediathek zu sehen. Die Co-Produktion von BR, Deutscher Welle, NDR und Lighthouse Reports wird am 3. November um 23:05 Uhr im Ersten ausgestrahlt.