Afghanistan unter den Taliban Kein Magnet für Dschihadisten
Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hatten westliche Sicherheitsbehörden befürchtet, das Land könnte wieder zu einem Rückzugsort für internationale Terroristen werden. Hat sich das bewahrheitet?
Ein Mann in Flecktarnjacke läuft durch ein Gehöft in Afghanistan. Die Szene hat er mit einer Handykamera selbst gefilmt. Er ist offenbar ein Taliban-Sympathisant, und er spricht Deutsch. Zuletzt soll der Mann in Hamburg gelebt haben, seine Familie stammt wohl aus Afghanistan.
In dem Video, das er im August vergangenen Jahres in sozialen Netzwerken veröffentlicht hat, sind Gräber zu sehen. Bislang hätten die Amerikaner hier alles unter Kontrolle gehabt. "Aber jetzt sind unsere Friedhöfe wieder frei! Mit Allahs Kraft versichert!", sagt der Mann. "Die Talibs haben alles übernommen! Alles wieder in unseren Händen!"
Rückfall in den 1990er Jahre?
Nach dem Abzug zu der NATO-Truppen im vergangenen Jahr übernahmen die Taliban wieder die Macht in Afghanistan. Sie errichteten ein "Islamisches Emirat", führten die islamische Gesetzgebung der Scharia ein und schränkten vor allem die Frauenrechte massiv ein. Große Teile der Bevölkerung hungern. Viele Menschen verließen das Land, sie wollen nicht unter der Herrschaft der islamistischen Fundamentalisten leben. Andere, vor allem Ortskräfte westlicher Organisationen, bangen noch immer um ihr Leben.
In den Sicherheitsbehörden war die Sorge groß, dass Afghanistan wieder zu einem Rückzugsort für internationale Terroristen werden könnte, zu einem Tummelplatz für Dschihadisten aus der ganzen Welt - wie in den 1990er-Jahren, als das Terrornetzwerk Al-Kaida am Hindukusch unter der Schirmherrschaft der Taliban agieren konnte und die Anschläge vom 11. September 2001 geplant hat.
Praktisch keine ausgereisten Islamisten
Tatsächlich aber zieht Afghanistan neun Monate nach Machtübernahme der Taliban bislang noch keine ausländischen Islamisten in nennenswerter Zahl an. Deutsche Sicherheitsbehörden haben nach WDR-Informationen derzeit keine Erkenntnisse darüber, dass Personen aus dem hiesigen islamistischen Spektrum dorthin ausgereist sind und sich den Taliban angeschlossen haben. Auch Ausreisen, um sich dem afghanischen Ableger des Terrornetzwerkes "Islamischer Staat" (IS) anzuschließen, sind zuletzt nicht registriert geworden.
Allerdings, so heißt es in Sicherheitskreisen, könne nicht ausgeschlossen werden, dass etwa Islamisten mit familiären Beziehungen nach Afghanistan - wie vermutlich jener Mann, der das Handyvideo aufgezeichnet hat - vielleicht doch ausgereist und auf Seiten der Taliban aktiv seien. Solche Reisebewegungen könnten zwar registriert werden, die Reiseabsichten aber seien eben oft unklar.
Taliban halten Zusagen offenbar ein
Im Zuge der Friedensverhandlungen zwischen den USA und den Taliban war vereinbart worden, dass die Taliban zusichern sollten, keine internationalen Terroristen wie jene der Al-Kaida mehr zu beherbergen. Die Taliban hatten angekündigt, ausländische Dschihadisten in den eigenen Reihen nicht zu dulden. Bislang, so scheint es, halten sich die neuen Machthaber in Kabul offenbar daran.
"Al-Kaida hatte einige Probleme, sich zu rekonstituieren, mit der Führung und bis zu einem gewissen Grad, denke ich, haben die Taliban ihr Wort gehalten, Al-Kaida nicht wieder erstarken zu lassen", sagte jüngst Scott Berrier, Direktor des US-Militärgeheimdienstes DIA, bei einer Anhörung vor Abgeordneten in Washington. "Das ist etwas, das wir sehr, sehr genau beobachten", sagte Berrier und fügte hinzu, dass es wahrscheinlich mehr als ein Jahr dauern würde, bis Al-Kaida in der Lage wäre, Angriffe gegen die USA durchzuführen. Ähnliches gelte für die IS-Terroristen in der Region.
Afghanistan unter den Taliban, so auch die Einschätzung in deutschen Sicherheitsbehörden, habe derzeit eine weitaus geringere Anziehungskraft als das "Terrorkalifat" des IS in Syrien und Irak vor einigen Jahren. Damals waren rund 1000 Islamisten aus der Bundesrepublik in das Kriegsgebiet im Nahen Osten ausgereist, darunter teilweise ganze Familien und sogar minderjährige Mädchen. Afghanistan scheint offenbar auch aufgrund der mühsamen und langen Anreise sowie den widrigen Lebensbedingungen vor Ort nicht besonders attraktiv für deutsche Dschihadisten zu sein.
Taliban kämpfen selbst gegen IS-Ableger
Auch der Umstand, dass die Taliban sich inzwischen selbst in einer Art Anti-Terror-Kampf befinden, könnte ein Grund sein, weshalb internationale Dschihadisten bislang nicht in das Land strömen. Die Taliban bekämpfen den afghanischen Ableger des Terrornetzwerkes IS, der für zahlreiche Selbstmordanschläge verantwortlich gemacht wird. Allein in diesem Jahr sollen die IS-Terroristen mehr als 40 Attentate in Afghanistan und Pakistan verübt haben, darunter viele gegen die Taliban. Beide islamistischen Gruppen sind aus ideologischen Gründen verfeindet.
Als sich im vergangenen Jahr abzeichnete, dass die Taliban wohl bald wieder Afghanistan regieren würden, gab es zeitnah Bemühungen in den deutschen Sicherheitsbehörden, mögliche Ausreisen von bekannten Extremisten in das Land festzustellen und gegebenenfalls zu unterbinden. So wurde beispielsweise die Bundespolizei für solche Reisenden sensibilisiert. Auf dem Weg nach Afghanistan gestoppt allerdings wurde damals nur eine Person, die nicht geplant haben soll, sich den Taliban anzuschließen, sondern gegen die Taliban zu kämpfen.
Verfassungsschutz beobachtet "Altfälle"
Beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) wurden zudem nochmal jene "Altfälle" von Dschihadisten gesichtet, die in den vergangenen Jahren, insbesondere im Zeitraum von 2007 bis 2012, in das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet Waziristan ausgereist waren. Die Region der sogenannten Stammesgebiete galt damals als Rückzugsort für Terroristen aus aller Welt. Auch deutsche Islamisten reisten dorthin, schlossen sich Terrorgruppen wie der Al-Kaida oder der Islamischen Bewegung Usbekistans (IBU) an. Sie wurden an Waffen und Sprengstoff ausgebildet.
Viele der nach Waziristan ausgereisten Dschihadisten kehrten nach Deutschland zurück. Andere kamen vor Ort ums Leben, bei US-amerikanischen Drohnenangriffen, bei Gefechten mit der pakistanischen Armee oder starben als Selbstmordattentäter. Einzelne Islamisten sollen zudem die Region verlassen und nach Syrien weitergereist sein.
Nur bei einer kleinen Zahl von Islamisten ist der Verbleib bis heute ungewiss. Der Verfassungsschutz versuchte im vergangenen Jahr zu ermitteln, wo sich diese Dschihadisten aufhalten, und ob sie nun nach dem Abzug der westlichen Truppen möglicherweise in Afghanistan aktiv werden könnten. Mehrere Angehörige der vor Jahren ausgereisten Islamisten wurden daraufhin vom Verfassungsschutz kontaktiert und nach deren Aufenthaltsort befragt.