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Diskussion über "System Winterhoff" Erste Einrichtungen ziehen Konsequenzen

Stand: 12.08.2021 19:52 Uhr

Nach den schweren Vorwürfen gegen den Kinderpsychiater Winterhoff wird in der Jugendhilfe über dessen Behandlungsmethoden diskutiert. Einige Einrichtungen zogen bereits Konsequenzen. Von Nicole Rosenbach.

Von Nicole Rosenbach, WDR

Nach den schweren Vorwürfen gegen den bekannten Kinderpsychiater Winterhoff wird in der Jugendhilfe über dessen Behandlungsmethoden diskutiert. Einige Einrichtungen zogen bereits Konsequenzen.

Christof Kriege vom Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln sagt, er sei "sehr erschrocken", wie unkritisch Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe die psychiatrische Diagnostik und Therapie von Winterhoff übernommen hätten. Aber auch darüber, dass Jugendämter und Familiengerichte die Gutachter-Empfehlungen eins zu eins übernommen hätten."

Michael Winterhoff

Er soll zweifelhafte Diagnosen gestellt und zu oft ein ruhigstellendes Medikament eingesetzt haben: Kinderpsychiater Winterhoff.

WDR und "Süddeutsche Zeitung" (SZ) trafen bei ihrer Recherche auf Erziehungsberechtigte, denen das Jugendamt mit dem Entzug des Sorgerechts gedroht hatte, weil sie die von Winterhoff verordneten Medikamente bei ihren Kindern absetzen wollten. In mindestens einem Fall wurde die Drohung umgesetzt und gerichtlich bestätigt.

Diözesan-Caritasverband fordert kritische Überprüfung

Kriege sagt, der Diözesan-Caritasverband habe alle etwa 60 ambulanten und stationären Träger der Kinder- und Jugendhilfe aufgefordert, die Zusammenarbeit mit Winterhoff kritisch zu überprüfen. Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass nur ein Träger mit Winterhoff kooperiert: Der Kleine Muck e.V. Bonn. Der Verein betreibt mehrere Einrichtungen und wurde von Winterhoff mit gegründet. Michael Winterhoff betreut zahlreiche Kinder in dessen Einrichtungen als Facharzt.

Das Jugendamt Niederkassel kündigte an, man werde erst wieder mit Einrichtungen des Vereins zusammenarbeiten, wenn sich dieser von der Praxis Winterhoff gelöst habe. Das Jugendamt St. Augustin gab bereits bekannt, die Kooperation mit Winterhoff aufgekündigt zu haben. Man sehe ernstzunehmende Hinweise auf eine fachlich nicht vertretbare, schadenverursachende Arbeitsweise des Kinderpsychiaters.

Erste Einrichtungen distanzieren sich

Auch die ersten Einrichtungen, in denen Winterhoff Kinder behandelte, distanzieren sich. Die Leitung einer Einrichtung nahe Bonn gab bekannt, die Kooperation schon vor einiger Zeit beendet zu haben. Durch die aktuelle Berichterstattung sehe man sich in diesem Schritt bestätigt.

Landesjugendamt Rheinland wenig überrascht

Lorenz Bahr, Dezernatsleiter im Landesjugendamt Rheinland, zeigt sich von den Vorwürfen gegen Winterhoff wenig überrascht. Schon vor Jahren habe man als Träger einiger Einrichtungen die Zusammenarbeit beendet - wegen "der hohen und dauerhaften Dosierung von Medikamenten bei Kindern und Jugendlichen". Anderen Einrichtungen oder Jugendämtern habe man aber keine Anweisungen gegeben: Letztlich würden die Eltern und Sorgeberechtigten entscheiden, welche Medikamente die Kinder und Jugendlichen erhalten. Für die Aufsicht über die Ärzte sei die Ärztekammer verantwortlich.

Keine Eile bei der Ärztekammer

Dort scheint keine große Eile zu bestehen. Man sei in seiner Aufsichtsfunktion an rechtsstaatliche Prinzipien gebunden, sagte eine Sprecherin der Ärztekammer Nordrhein. Ermittlungen seien erst bei einem Anfangsverdacht möglich, dazu brauche es einen konkreten Sachverhalt, "anhand dessen wir eine berufsrechtliche Prüfung durchführen können". Ob dieser Anfangsverdacht bei Winterhoff gegeben ist, wollte die Sprecherin aus Datenschutzgründen nicht mitteilen. Nach Recherchen von WDR und SZ meldete eine Betroffene der Ärztekammer Nordrhein angeblich schon vor Monaten Unregelmäßigkeiten bei der Behandlung durch den Kinderpsychiater.

Was hat Winterhoff verschrieben?

Katharina Binz, Jugend- und Familienministerin von Rheinland-Pfalz, teilte auf Nachfrage mit, es müsse unverzüglich aufgeklärt werden, inwieweit Winterhoff "mit zweifelhafter Diagnose und möglicherweise unnötig" Psychopharmaka an Kinder verschrieben habe. Das Landesjugendamt sei beauftragt worden abzufragen, welche Einrichtungen und Jugendämter in Rheinland-Pfalz mit Winterhoff zusammengearbeitet hätten oder noch zusammenarbeiten. Zudem habe sich das Familienministerium Rheinland-Pfalz an die Landesärztekammer Nordrhein und die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein gewandt und "um Prüfung hinsichtlich der ärztlichen Berufsordnung und des Verordnungsrechts gebeten".

SPD in NRW spricht von "handfestem Skandal"

Dennis Maelzer, familienpolitischer Sprecher der SPD in Nordrhein-Westfalen, spricht von einem "handfesten Skandal", sollten sich die Vorwürfe gegen Winterhoff bewahrheiten. Die NRW-Landesregierung müsse den Fall vollständig aufklären und aufarbeiten. Seine Partei werde hierzu einen Bericht anfordern. Gefordert seien auch die Jugendämter, "die aufklären müssen, ob hier von einer Kindeswohlgefährdung ausgegangen werden muss".

Das Familienministerium Nordrhein-Westfalen äußerte sich bisher nur knapp: Es seien sehr schwere Vorwürfe, die ehemalige Patienten und ihre Familien gegen den Kinderpsychiater erheben. "Insbesondere die Vorwürfe von Heimkindern, die besonderen Schutz benötigen, müssen umfassend und lückenlos aufgeklärt werden."

Was machte das "System Winterhoff" möglich?

Unter Fachleuten wird der Ruf laut aufzurollen, was das "System Winterhoff" möglich gemacht habe. Der Kinderarzt und Autor Herbert Renz-Polster weist darauf hin, dass das System nur durch Beifall und Kollaboration funktioniert habe. "Sein System funktioniert, weil die von ihm formulierte Art des Denkens über Kinder und über Erwachsenen-Kind-Beziehungen auf weit verbreitete Haltungen in der Gesellschaft, in der Pädagogik und in der Jugendhilfe stößt."

Bei der WDR-Story-Redaktion haben sich inzwischen mehr als 50 Betroffene gemeldet, die Ihre Erfahrungen mit Winterhoff schildern möchten.

Winterhoffs Anwälte sehen "Falschdarstellungen"

Winterhoff selbst ließ über seine Anwälte mitteilen, dass die ARD-Story seiner Ansicht nach Falschdarstellungen enthalte, gegen die er vorgehen werde. "Ich glaube, dass wir hier jeden Einzelfall betrachten und die durch den WDR-Beitrag entstandenen Irritationen ausräumen können. Ich bin zuversichtlich, dass das gelingt. Dazu bin ich mit Einrichtungen und Ämtern im Gespräch."