BVerfG-Urteil zur Strafverfolgung Ein schales Gefühl
Das BVerfG-Urteil wirft Fragen auf. Wenn es neue Erkenntnisse gibt, sollten diese geprüft werden. Wenn schwerste Straftaten nicht mehr aufgeklärt werden, auch wenn es möglich wäre, dann ist der Rechtsstaat für viele unverständlich.
Die Sache war unter den Verfassungsrichterinnen und -richtern sehr umstritten - ein deutliches Zeichen, dass man in dieser Frage durchaus verschiedener Meinung sein kann. Die Mehrheit der Karlsruher Richter liest aus dem Grundgesetz ein absolutes Verbot heraus, ein Strafverfahren ein zweites Mal aufzurollen, wenn es schon ein rechtskräftiges Urteil gab.
Ausnahmen wurden schon immer gemacht
Aber ganz so absolut ist die Sache nicht. Denn in einigen wenigen Fällen war es immer schon möglich - trotz eines rechtskräftigen Freispruchs -, nochmal Anklage zu erheben: zum Beispiel, wenn Urkunden gefälscht waren oder wenn der Betreffende später die Tat doch noch gesteht. Das heißt, Ausnahmen wurden in dieser Republik schon immer gemacht. Ist so ein Geständnis nicht auch ein neuer Beweis? Warum also bei anderen Beweisen - zum Beispiel bei DNA-Analysen - kein neues Verfahren zulassen?
Es ist durchaus ehrenwert, wenn sich das Verfassungsgericht auf die Nazizeit besinnt und sagt: Daraus haben wir etwas gelernt. Es sei damals unerträglich gewesen, dass niemand zur Ruhe kommen konnte. Immer wieder mussten in der Zeit der Diktatur unschuldige Menschen befürchten, dass ihre Strafverfahren erneut aufgerollt werden.
Es sollte um die Aufklärung gehen
Allerdings: Wir sind heute im Jahr 2023 doch meilenweit von solchen Verhältnissen entfernt. Wir leben nicht in einem Unrechtsstaat, eine Wiederaufnahme war auch nach der Gesetzeserweiterung vor zwei Jahren weiterhin die absolute Ausnahme. Nur in ganz besonders schweren Fällen, bei Mord oder Völkerrechtsverbrechen, sollte eine neue Anklage möglich sein.
Die Richtermehrheit sagt: Bei unseren Strafverfahren geht es nicht darum, in jedem Fall und unbedingt zu bestrafen. Wir bekennen uns zur Unschuldsvermutung. Es kann auch vorkommen, dass jemand nicht bestraft wird - einfach, weil man die Tat nicht nachweisen kann.
Mein Gegenargument: Wenn es aber doch Belege gibt, müssten die Gerichte diese nicht zumindest mal prüfen können? Es kann ja sein, dass die zweite Runde auch wieder mit Freispruch endet. Aber dann haben wir uns wenigstens um Aufklärung bemüht.
Neue Ermittlungstechnik bringt neue Erkenntnisse
Was die Opfer und die Angehörigen angeht: Sie können nicht der alleinige Grund sein, warum ein Strafverfahren wieder aufgerollt wird. Aber wenn durch neue Ermittlungstechnik neue Erkenntnisse im Raum stehen, hinterlässt Untätigkeit des Staates bei schweren Delikten wie Mord doch ein schales Gefühl. Warum ist es so viel wichtiger, dass der mögliche Täter darauf vertrauen kann, dass er nicht noch mal vor Gericht kommt?
Das Verfassungsgericht will den Rechtsstaat schützen. Das ist in Zeiten des grassierenden Populismus anzuerkennen. Aber wenn schwerste Straftaten nicht mehr aufgeklärt werden dürfen, obwohl ein Weg dahin möglich erscheint, wird der Rechtsstaat für viele unverständlich.