Getreideabkommen Hunger als Verhandlungsmasse
Die Bemühungen des türkischen Präsidenten Erdogan wegen des Getreideabkommens sind lobenswert, aber vor allem vom eigenen Interesse geleitet. Erdogan tanze auf dem Drahtseil zwischen NATO und Russland wie kein Zweiter.
Das Getreideabkommen in seiner bisherigen Form war ein Strohfeuer. In Kraft getreten im August vergangenen Jahres legten im September 178 Getreidefrachter von ukrainischen Häfen ab, im Oktober 180. Im Juli diesen Jahres bis zum Ausstieg Russlands zur Monatsmitte waren es nur noch fünf.
Bis dahin wurden knapp 33 Millionen Tonnen ukrainisches Getreide und Pflanzenöle durch den Bosporus verschifft. In bitterarmen Ländern wie Afghanistan, Somalia oder dem Jemen kam davon etwa ein Viertel an.
Der größte Teil wurde in Länder mit hohem und mittelhohem Einkommen verschifft, allen voran China, gefolgt von Spanien und der Türkei. Dort wird zumindest ein Teil des Getreides weiterverarbeitet, um es anschließend als Mehl, Nudeln oder Gebäck in andere - auch ärmere Länder - zu exportieren.
Türkische Wirtschaft profitiert
Von der damit verbundenen Wertschöpfung profitiert die türkische Wirtschaft. Hinzu kommt, dass jedes Frachtschiff für die Passage durch den Bosporus zahlen muss. Die Gebühren wurden mit Beginn des Getreideabkommens - Zufall oder nicht - drastisch erhöht auf gut vier US-Dollar pro Tonne. Der türkischen Staatskasse hat das rechnerisch einen dreistelligen Millionenbetrag eingebracht.
Die Türkei könnte diese Summe zum Beispiel nutzen, um damit einen kleinen Teil der offenen Rechnungen in Moskau zu bezahlen. Denn Russland hatte der Türkei Kosten für Erdgas in Milliardenhöhe gestundet - und damit Recep Tayyip Erdogan im Wahlkampf einen Dienst erwiesen.
Aber es geht Erdogan nicht allein ums Geld. Dass er sich für eine Wiederbelebung des Getreideabkommens stark gemacht hat, dafür wiegen die politischen Motive mindestens genauso schwer. Ein Erfolg wäre gleichbedeutend mit Anerkennung weit über die Grenzen der Türkei hinaus. Erdogan würde damit die Früchte seiner häufig kritisierten Politik ernten: hier ein Flirt mit Putin, dort die NATO-Mitgliedschaft. Er liefert Waffen an die Ukraine und nimmt zu den Gesprächen in Russland den höchsten Vertreter der türkischen Rüstungsindustrie mit.
An Erdogan soll kein Weg vorbeiführen
Erdogan tanzt auf dem Drahtseil zwischen Ost und West, zwischen Nato und Russland wie kein Zweiter. Wann auch immer es endlich darum gehen wird, die Waffen in der Ukraine zum Schweigen zu bringen - Erdogan arbeitet daran, dass an ihm kein Weg vorbeiführt.
Allerdings: Das Ziel scheint noch weit entfernt und als Friedensengel ist der türkische Präsident bisher nicht aufgefallen. Das Strohfeuer vom Anfang des Getreideabkommens - nach dem Treffen mit Putin glimmt es im besten Fall weiter. Ob es neu entfacht werden kann? Fragezeichen! Der große Erfolg des großen Vermittlers Erdogan ist vorerst ausgeblieben. Dabei wäre ein Durchbruch in Sotschi vor allem den Entwicklungsländern zu gönnen gewesen.
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