Kirchenaustritte Eine Art Selbstdemontage
Der Massenaustritt aus der katholischen Kirche verwundert angesichts der Doppelmoral und der schleppenden Aufarbeitung von Missbrauch nicht. In Kombination mit der Reformunwilligkeit dürften die Mitgliedzahlen weiter schrumpfen.
Mehr als eine halbe Million Austritte binnen eines Jahres: Das ist ein Erdbeben. Und es steht zu befürchten, dass - um im Bild zu bleiben - der Boden, auf dem die katholische Kirche steht, so schnell nicht zur Ruhe kommt. Mit anderen Worten: Der sexuelle Missbrauch und seine Vertuschung, die wohl den Hauptgrund für die hohen Austrittszahlen bilden dürften, werden die deutschen Bistümer auch auf absehbare Zeit in Unruhe halten und Mitgliederzahlen dezimieren.
Wasser predigen und Wein saufen
Zwar hat es sexuelle Gewalt auch in Sportvereinen, Schulen oder Chören gegeben, die ebenfalls der Aufarbeitung harren, doch die sogenannte moralische Fallhöhe der katholischen Kirche ist eine andere. Hier wurde über Jahrzehnte Wasser gepredigt und - wie wir jetzt wissen - massenweise Wein gesoffen. Das empört, und zwar nachhaltig.
Hinzu kommt, dass nur ein Teil der Bischöfe den sexuellen Missbrauch und die hohen Austrittszahlen als das nimmt, was sie sind, nämlich als Alarm- und Weckruf - vor allem für Reformen. Wer beispielsweise ins Erzbistum Köln schaut, schüttelt nur mit dem Kopf: Kardinal Woelki wird des Meineides verdächtigt - könnte also "bei Gott" eine falsche Aussage geschworen haben!
Höchste Instanz tut nichts
Soweit hätte es nicht kommen müssen. Im Frühjahr 2022 wurde die Kritik so laut, dass der Erzbischof dem Papst nach dessen Aufforderung seinen Rücktritt anbot. Pfarrer, Dechanten und Dekane seiner eigenen Diözese bemängeln schon länger offen Woelkis Umgang mit dem Missbrauch. Zudem treten im Erzbistum Köln mehr Menschen aus der Kirche aus als in allen anderen Bistümern. Das hat auch mit dem Ärger über Woelki zu tun.
Doch was macht der Papst? Er lässt sich intensiv informieren und erklärt dann, er wolle sich bei einer Entscheidung zur Causa Woelki nicht unter Druck setzen lassen. Statt eine klare Entscheidung zu fällen, nimmt Franziskus also über ein Jahr lang sehenden Auges in Kauf, dass das Erzbistum Köln immer mehr Gläubige verliert. Das verstehe, wer will und vor allem, wer kann. Hier demontiert sich die katholische Kirche offensichtlich selbst.
Die Mehrheit der Katholiken will Reformen
Dass Woelki und drei weitere Bischöfe darüber hinaus auch noch den Reformprozess "Synodaler Weg" torpedieren und sich dabei der Rückendeckung wichtiger Personen im Vatikan erfreuen, passt ins Bild.
Solange aber eine Minderheit der Bischöfe nicht in den Dialog mit den Gläubigen treten möchte und ignoriert, dass die mutmaßlich überwältigende Mehrheit der Katholiken in Deutschland mehr Offenheit und Mitsprache - kurz: Reformen - wünscht, solange dürften die Austrittszahlen weiterhin hoch bleiben. Und nächstes Jahr werden an dieser Stelle die gleichen Fragen gestellt.