BGH-Urteil gegen KZ-Sekretärin Kein Schlussstrich
Das Urteil des Bundesgerichtshofs gegen Irmgard F. ist wohl das letzte KZ-Urteil in Deutschland. Doch damit ist die Aufarbeitung des Nationalsozialismus nicht beendet. Es ist der Auftakt zu einer neuen Phase des Erinnerns.
Das gesamte Strafverfahren gegen die KZ-Sekretärin Irmgard F. war eine Zeitreise. Nicht nur in die schreckliche Zeit des Holocaust im KZ Stutthof. Auch in die Zeit der ersten Auschwitzprozesse in den 1960er-Jahren.
Kein menschliches Wort über die eigene Schuld ist damals gefallen. Das hat der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer damals betont. Und die Geschichte verläuft auch 60 Jahre später ähnlich. Irmgard F. hat zwar gesagt, dass sie es bereue, dass sie in Stutthof war. Ein Eingeständnis einer persönlichen Schuld war das aber nicht. Denn sie hat das Urteil des Landgerichts Itzehoe nicht akzeptiert und war zum Bundesgerichtshof gezogen.
Dort hatte ihr Verteidiger versucht, ihre Rolle kleinzureden. Nur eine Sekretärin, kein SS-Wächter sei sie gewesen. Und überhaupt könne man ihr nicht nachweisen, dass sie vorsätzlich Beihilfe zum Massenmord geleistet habe.
Ergreifende Antwort eines Überlebenden
Unheimlich, wie die alte deutsche Verdrängungsstrategie im Jahr 2024 vor dem höchsten deutschen Strafgericht wiederkehrt. Unheimlich die alte Leier: Man müsse ja Vernichtungslager von anderen KZ unterscheiden und Beihilfe zum Mord, das könne man nur den aktiven SS-Schergen in den Lagern vorwerfen.
Eine ergreifende Antwort auf diese Verdrängungsrhetorik gab im Verfahren in Leipzig der 96-jährige Abraham Koryski, Überlebender von Stutthof. Er hatte nicht aus Haifa in Israel nach Leipzig kommen können. Seine Anwältin verlas eine Stellungnahme von ihm. "Von dem Moment an, in dem ich das Lager betrat, empfing mich der Geruch des Todes, der Geruch des Krematoriums, dessen Schornstein für alle sichtbar und dessen Gestank jede Nase ausgesetzt war."
Jeder in Stutthof wusste, dass das Lager eine Vernichtungsmaschinerie war, mit dem einzigen Zweck, zu morden. Das bezeugt Abraham Koryski.
Viele Jahrzehnte zu spät
Es ist wichtig, dass der Bundesgerichtshof nun festgestellt hat, dass auch eine KZ-Sekretärin wie Irmgard F. Gehilfin des Holocaust gewesen ist. Ein Urteil, das allerdings viele Jahrzehnte zu spät kommt, wie ein anderer Überlebender von Stutthof, Josef Salomonovic, es ausgedrückt hat.
Der wahrscheinlich letzte KZ-Prozess in Deutschland weist auch darauf hin: Neben der ersten gibt es eine zweite deutsche Schuld. Dieses Land hat mit dem Holocaust nicht nur das grausamste Menschheitsverbrechen begangen. Die deutsche Justiz hat die Aufarbeitung dieses Verbrechens auch jahrzehntelang verweigert und teilweise sogar hintertrieben.
Eine zweite Erinnerungsarbeit
Man muss es klar sagen: Neben dem Erinnern an den Holocaust muss diese Gesellschaft in den nächsten Jahren noch eine zweite Erinnerungsarbeit leisten. Sie muss ganz genau und ganz konkret fragen, warum höchste Gerichte es zugelassen haben, dass Zehntausende von NS-Tätern völlig ungestraft davongekommen sind.
Viele Institutionen und Gerichte müssen die eigene Geschichte nach 1945 noch aufarbeiten. Manche sind schon dabei, andere tun wenig oder nichts. Das vermutlich letzte KZ-Urteil in Deutschland ist kein Schlussstrich unter die deutsche NS-Geschichte. Es ist der Auftakt zu einer neuen Phase des Erinnerns und des Aufarbeitens.
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