Nahost-Experte Woertz "Zwei mögliche Eskalationsdynamiken"
Nahost-Experte Eckart Woertz erklärt im Interview, wie er das Risiko einer regionalen Eskalation einschätzt - und welche Folgen eine israelische Bodenoffensive im Gazastreifen haben könnte.
tagesschau: Die Brisanz der Lage im Nahen Osten ist auch daran zu erkennen, dass viele ranghohe Politiker dorthin fliegen. Als erster Regierungschef heute Bundeskanzler Olaf Scholz. Morgen will dann US-Präsident Joe Biden folgen. Welches Gefahrenpotenzial sehen Sie im Nahen Osten und auch weit über diese Region hinaus?
Eckart Woertz: Nun, es gibt zwei mögliche Eskalationsdynamiken. Die eine wäre eine Situation wie 2021, dass sich arabische Israelis und Palästinenser im besetzten Westjordanland mit der palästinensischen Bevölkerung in Gaza solidarisieren und teilweise gewaltsame Demonstrationen durchführen. Das andere Risiko wäre, dass es zu einer Eskalation mit der libanesischen Hisbollah kommt, die enge Beziehungen zum Iran pflegt. Und dann hätte man natürlich das Risiko einer regionalen Eskalation.
tagesschau: Die USA sind Israels wichtigster Verbündeter. Es gibt Friedensverträge zwischen Israel und Ägypten sowie zwischen Israel und Jordanien. Die USA haben lange darauf zugearbeitet, das Konfliktpotenzial im Nahen Osten zu entschärfen. Wie bewerten Sie diese Strategie?
Woertz: Nun ja, die Abraham Accords haben zu einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel, den Emiraten, dem Sudan, Marokko und Bahrain beigetragen - aber ohne die Palästinenserfrage anzusprechen, geschweige denn sie zu lösen. Das ist langfristig kein erfolgversprechendes Rezept. Insofern wird man sich hier Gedanken über die weiteren Strategien machen müssen.
"Respekt vor israelischen Gegenschlägen"
tagesschau: Welche Interessen verfolgen Libanon und der Iran - und welche Folgen hätte es, wenn sich diese Länder an Angriffen gegen Israel unmittelbar beteiligen?
Woertz: Im Libanon sprechen wir vor allem von der Hisbollah, die ein nichtstaatlicher Akteur ist. Der Libanon selber ist dramatisch verarmt über die letzten Jahre. Die Währung ist um über 90 Prozent abgestürzt, und die politische Klasse ist desavouiert. Die Hisbollah allerdings ist in engem Austausch mit dem Iran, wird vom Iran massiv unterstützt und ist auch vom militärischen Potenzial deutlich schwerwiegender und gefährlicher einzuschätzen als die Hamas. Insofern besteht hier ein gewisses Risiko. Aber die Hisbollah hat natürlich auch erheblichen Respekt vor israelischen Gegenschlägen, wie sie ja 2006 während dem Waffengang zwischen der israelischen Armee und der Hisbollah stattgefunden haben.
tagesschau: Können Sie das Gefahrenpotenzial da noch mal konkretisieren?
Woertz: Das Gefahrenpotenzial wäre, dass die Hisbollah sich verleiten lässt, Israel zum Beispiel mit ihrem erheblichen Raketenpotenzial anzugreifen. Das täte sie nicht tun, ohne grünes Licht oder entsprechende Ermunterung vom Iran erfahren zu haben. Und das würde zu massiven israelischen Gegenschlägen führen.
"Was möchte Israel mit dem Gazastreifen?"
tagesschau: Jetzt haben Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und Russlands Präsident Wladimir Putin miteinander gesprochen. Welchen Einfluss hat Russland auf den Nahen Osten und welche Interessen verfolgt Putin dort?
Woertz: Russland hat in den syrischen Bürgerkrieg eingegriffen und dort das Assad-Regime quasi gerettet, unterhält in Tartus auch eine Marinebasis - und spricht sich auf der anderen Seite mit Israel ab, dahingehend, dass Israel ja gelegentlich iranische Ziele in Syrien bombardiert und man versucht, einander dort nicht ins Gehege zu kommen. Darüber hinaus hat Russlands teilweise weiteren Einfluss, zum Beispiel in Libyen mit der Wagner-Gruppe. Allerdings ist der doch relativ beschränkt im Vergleich zu den USA. Und in wirtschaftlicher Hinsicht kann Russland natürlich nicht das bieten, was die Europäische Union oder etwa China anbieten können.
tagesschau: Seit Tagen wird von einer geplanten Bodenoffensive Israels gesprochen. Warum hat diese Ihrer Einschätzung nach bisher noch nicht begonnen?
Woertz: Ich habe keine genauen Informationen darüber über die Tagespresse hinaus. Die Israelis haben gesagt, wegen schlechten Wetters - allerdings wird so eine Bodenoffensive sicherlich auch erhebliche Vorbereitung benötigen und sie ist mit erheblichen Risiken behaftet. Die Israelis haben sich ja aus einem Grund 2005 aus dem Gazastreifen zurückgezogen. Und selbst wenn solch eine Bodenoffensive erfolgreich verlaufen sollte, wird dies massive zivile Opfer fordern. Es werden extrem verstörende Bilder um die Welt gehen und danach wird sich die Frage stellen: Was möchte Israel eigentlich mit dem Gazastreifen machen? Denn als Besatzungsmacht müsste es diesen Streifen ja dann auch verwalten - mit dem entsprechenden Aufwand und den entsprechenden Risiken.
Das Gespräch führte Carl-Georg Salzwedel, tagesschau24