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Reaktivierung von Bahnstrecken Viele Studien - aber wenig neue Gleise

Stand: 29.10.2023 13:54 Uhr

Die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken würde sich vielerorts lohnen. Das sagen zahlreiche Machbarkeitsstudien. Trotzdem wurden im vergangenen Jahr deutschlandweit nur acht Kilometer Gleis reaktiviert. Woran liegt das?

Von Fabian Siegel, SWR

Wie in einem Märchen liegt die alte Eisenbahnbrücke mitten im Wald in der Nähe von Isny im Allgäu. Schienen gibt es weit und breit keine mehr, nur die Brücke erinnert an längst vergangene Eisenbahntage - rostig, moosbewachsen, irgendwie verwunschen. Die Natur hat sich ihr Territorium zurückgeholt. Die alten Holzplanken sind verfault, ein Baum ist zwischen ihnen durchgebrochen.

Vor einem halben Jahrhundert fuhren hier noch Züge - bis 1969 der Personenzug ins 16 Kilometer entfernte Leutkirch, bis 1976 immerhin noch Güterwaggons. Wenn es nach der vor vier Jahren gegründeten Bürgerinitiative "Leutkirch-Isny-Bahn" geht, sollen die Zeiten bald zurückkommen.

Hoffnung auf Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken

Fabian Siegel / Jana Witte, SWR, tagesthemen, 23.10.2023 22:15 Uhr

Per Bus eine Stunde, im Zug in 30 Minuten

"Wann, wenn nicht jetzt?", fragt Bürgerinitiativen-Gründer Benedikt Olbricht. Alle redeten von CO2-Einsparungen und der Verkehrswende. Eine Bahnlinie würde dazu beitragen, dass hier, 140 Kilometer entfernt von der Landeshauptstadt Stuttgart und 80 Kilometer weit weg von der nächsten Großstadt Ulm, die Leute endlich weniger Auto fahren.

"Es gibt Busverbindungen, die aber nicht beliebt sind, weil sie ziemlich lange dauern", sagt Olbricht. "Nach Leutkirch dauert die Busfahrt eine Stunde, mit dem Zug würde es in 30 Minuten gehen."

Reaktivierungen sind teuer

Doch das Problem einer möglichen Reaktivierung sind die Kosten: Die alte Strecke ist längst mit Gebäuden bebaut. Es bräuchte eine komplett neue Trasse, mit neuen Gleisen, neuen Brücken, vielleicht sogar Tunneln. Vergleichbare Projekte in Deutschland kosten schnell mal bis zu 60 Millionen Euro, je nach Aufwand sogar mehr.

Darum hat das Land Baden-Württemberg auch erst einmal abgewunken. Eine Potentialanalyse kam zu dem Schluss: Zu wenige potentielle Fahrgäste für den Aufwand. "Diese Potenzialanalyse haben wir angezweifelt", sagt Isnys parteiloser Bürgermeister Rainer Magenreuter. Ein eigenes Gutachten kam zu einem ganz anderen Ergebnis: Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die von einer Bahnverbindung profitieren würden, sei höher als gedacht, hinzu kämen viele Pendler und Touristen.

Das Land hat sich überzeugen lassen. Die Bahnstrecke Isny-Leutkirch ist als letzte von insgesamt 42 Strecken im Land in die aktuelle Machbarkeitsstudie gerutscht, die prüfen soll, bei welchen Trassen es sich lohnt, sie wieder fit zu machen. Und welche im Dornröschen-Schlaf bleiben müssen.

Wo seit 2019 wieder Züge rollen

An der deutsch-niederländischen Grenze sind sie schon weiter: In Bad Bentheim in Niedersachsen fährt seit 2019 wieder ein Zug über Nordhorn nach Neuenhaus - zur Freude vieler Pendlerinnen und Pendler.

"Ich arbeite in Nordhorn und fahre praktisch fast jeden Tag mit der Bahn", berichtet Antje Becker, frühmorgens am Bahnsteig in Bad Bentheim. Auch Merle Hornung ist von der neuen, alten Bahnverbindung überzeugt: "Man muss nicht mehr irgendwo in dem Bus steigen, sich von den Eltern bringen lassen oder selbst mit dem Auto fahren."

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Am Bahnhof von Bad Bentheim. Hier fahren wieder Züge nach Neuenhaus.

21 Millionen Euro hat die Reaktivierung der 30 Kilometer langen Strecke gekostet. Ein vergleichsweise günstiges Projekt. Dennoch dauerte es von den ersten Planungen bis zur Wiederaufnahme des Fahrbetriebs fast 25 Jahre.

Viel Wille, wenig neue Streckenkilometer

Beide Beispiele stehen gleich doppelt sinnbildlich für die aktuelle Situation in Deutschland: Das Interesse daran, alten Bahnstrecken neues Leben einzuhauchen, ist hoch wie nie - und gleichzeitig geht es vielen Menschen immer noch zu langsam voran.

Insgesamt gebe es in Deutschland aktuell für 163 alte Bahnstecken entsprechende Untersuchungen von Sachverständigenbüros. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie des Inetressenverbands Pro Schiene und des Verbands der Deutschen Verkehrsunternehmen (VDV). Zu 103 dieser Machbarkeitsstudien gibt es auch schon Ergebnisse: Bei 79 Strecken - also bei gut Dreiviertel aller Projekte - wäre der Nutzen einer Reaktivierung wohl höher als die Kosten, weil es genügend potentielle Fahrgäste gibt.

"Entscheidend ist aber, was hinten rauskommt und da ist die Bilanz extrem mager", sagt Dirk Flege, Geschäftsführer von Allianz pro Schiene. Denn tatsächlich seien in Deutschland im vergangenen Jahr nur acht Kilometer Schiene wieder in Betrieb genommen worden.

Widerstände vor Ort und fehlende Baufirmen

Hindernisse sieht auch Christian Böttger, Verkehrswissenschaftler an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Vor allem die Länder leiteten gerade viel in die Wege, Bund und Bahn seien zumindest nicht mehr ablehnend eingestellt. Dass es trotzdem so schleppend vorangehe, habe viele Gründe. Widerstände vor Ort, aber vor allem auch die aktuelle Wirtschaftslage.

"Wir haben derzeit einen Ressourcenmangel", sagt Böttger. Viele Reaktivierungen verzögerten sich schlicht und ergreifend, weil man keine Planungs- und Baufirmen finde. "Aber ich denke, wir werden jedes Jahr ein oder zwei Handvoll von Reaktivierungen sehen in den kommenden Jahren." Ob das reicht, damit die Mobilitätswende gelingt?

Es kann Jahrzehnte dauern

In Isny im Allgäu bleiben sie optimistisch. Das Land Baden-Württemberg gilt als Vorreiter bei Reaktivierungen, hier gibt es aktuell 22 positive Machbarkeitsstudien - so viele wie in keinem anderen Bundesland. Das Ergebnis der eigenen Studie erwarten die Isnyer bis Ende November.

Es ist aber auch klar: Selbst, wenn es positiv ausfällt, folgen langwierige Genehmigungs- und Planungsverfahren, einzelne Anwohnerinnen und Anwohner könnten gegen die neue Trasse Widerstand leisten. Und dann käme auch noch die Bauzeit dazu. Züge würden hier wohl frühestens in zehn bis 15 Jahren fahren - sehr optimistisch geschätzt.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 23. Oktober 2023 um 22:15 Uhr.