Zwei Ausgaben der Tarifverträge zwischen Volkswagen und IG Metall steht am 27.05.2013 in Hannover auf einem Tisch.
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Gehälter in deutschen Firmen Warum immer weniger Betriebe Tariflöhne zahlen

Stand: 23.04.2024 08:18 Uhr

Vor 75 Jahren trat das Tarifvertragsgesetz in Kraft - und prägte das deutsche Wirtschaftsmodell. Doch die Tarifbindung ist in der Krise. Gewerkschaften und Arbeitgeber blicken sehr unterschiedlich auf das Thema.

Auto, Industrie, Sozialpartnerschaft - das waren über Jahrzehnte die Schlagworte zur deutschen Wirtschaft. Auch aus dem Ausland schauten viele interessiert auf das deutsche Modell: Die starke Wirtschaftsleistung ging einher mit hohen Löhnen und guten Arbeitsbedingungen, ausgehandelt durch Arbeitgeber und Gewerkschaften. 

Grundlage des Modells: das Tarifvertragsgesetz von 1949. Es trat am 22. April in Kraft, vor fast genau 75 Jahren. Zunächst in der britischen und amerikanischen Zone - später auch in der französischen. Heute feiert der Deutsche Gewerkschaftsbund das Jubiläum in einem großen Festakt.

Ursprünge in der Weimarer Republik

"Darin wird eine bis heute zentrale Festlegung getroffen: Die Sozialpartner sind die kompetenten Akteure bei der Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen", erklärt IG-Metall-Justiziarin Johanna Wenckebach.

Die Ursprünge des sogenannten Tarifvertragsgesetzes reichen zurück in die Weimarer Republik. Zahlreiche Urteile haben das 13 Paragrafen kurze Gesetz in den vergangenen Jahrzehnten ausgelegt. Verändert wurde das Gesetz über die Jahre wenig.

"Tarifpolitik ist Beteiligungspolitik"

Das Urteil von Arbeitgeber- und Gewerkschaftsseite zum Tarifvertragsgesetz fällt ähnlich aus - beide loben es als schlankes und gutes Gesetz.

IG-Metall-Justiziarin Wenckebach hebt besonders einen Punkt hervor: "Tarifpolitik ist Beteiligungspolitik. Das ist ein demokratisches Instrument. Gerade in Zeiten, in denen sich viele ohnmächtig fühlen angesichts von Umbrüchen und der Transformation, ist es wichtig, das zu stärken und zu erleben, dass man die eigenen Interessen einbringen kann."

Nur noch ein Fünftel der Betriebe tarifgebunden

Zwar mag das Tarifvertragsgesetz die Jahrzehnte gut überstanden haben - die Reichweite von Tarifverträgen ist über die Jahrzehnte allerdings drastisch gesunken. Waren 1998 noch 73 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Tarifvertrag beschäftigt, betrug der Anteil 2022 nur noch 51 Prozent. Nur ein Fünftel aller Betriebe ist derzeit laut dem gewerkschaftsnahen Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) tarifgebunden. 

Damit liegt ausgerechnet Deutschland, wo es mit der IG Metall die größte Gewerkschaft der Welt gibt, in Sachen Reichweite von Tarifverträgen EU-weit nur noch im europäischen Mittelfeld. In Spanien, Dänemark, Frankreich, Österreich, Belgien oder Italien liegt die Abdeckung der Beschäftigten mit Tarifvertrag bei 80 Prozent und höher, das zeigen Zahlen der OECD für die Jahre von 2017 bis 2022.

Kleine und jüngere Firmen zahlen seltener nach Tarif

Das liegt auch in einem Wandel des deutschen Wirtschaftssystems begründet: Zuletzt sind hierzulande die Branchen gewachsen, in denen Tarifverträge weniger oft anzutreffen oder gar untypisch sind - etwa die Start-up-Branche oder der private Dienstleistungssektor.

Dazu kommt: Gerade kleinere Betriebe, wie sie im Dienstleistungssektor üblich sind, sind für Gewerkschaften schwer zu organisieren. Vorbei ist auch der deutsche Automatismus "Automobilindustrie gleich Tarifvertrag". Das zeigt das Beispiel Tesla in der Gigafactory Berlin-Brandenburg.

"Deutschland beschreitet einen Sonderweg"

Thorsten Schulten, Leiter des Tarifarchivs beim gewerkschaftsnahen WSI, sagt gegenüber tagesschau.de: "Die Gewerkschaften versuchen über neue Organisationsstrategien und auch Tarifkämpfe in kleineren Betrieben neue Wege zu gehen und sich neu aufzustellen - durchaus mit Erfolgen. Doch um die Tarifbindung deutlich zu erhöhen, wird das nicht ausreichen."

Er fordert daher, dass die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen erleichtert werden soll, um das Tarifsystem zu stabilisieren - etwa indem das doppelte Vetorecht der Arbeitgeber abgeschafft wird. "Deutschland beschreitet einen Sonderweg in Europa. Die meisten Nachbarn mit ähnlichen Tarifsystemen wie wir erklären ihre Tarifverträge sehr häufig für allgemeinverbindlich", sagt Schulten. 

Für allgemeinverbindlich erklären heißt, dass ein zuvor von den Tarifparteien verhandelter Flächentarifvertrag für alle Unternehmen der Branche gilt - egal, ob sie daran mitverhandelt haben oder nicht. 

In Belgien und den Niederlanden läuft es anders

Schulten erhofft sich davon mehr Attraktivität einer Mitgliedschaft sowohl bei den Arbeitgebern als auch in der Gewerkschaft: "Um die Bestimmungen im Tarifvertrag mitzuverhandeln, müssen die Betriebe oder Beschäftigten dann rein in die Verbände."

In Deutschland wird das Instrument bisher selten genutzt, weil hier über Jahrzehnte die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände so stark waren, dass die Tarifverträge ohnehin eine große Reichweite hatten.

Im Jahr 2022 wurden in Deutschland laut WSI 0,8 Prozent aller Branchentarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt, in den Nachbarländern Belgien und den Niederlanden dagegen "fast alle wichtigen Branchentarifverträge", schreibt der Wissenschaftler Schulten in einer Analyse.

Betriebsfrieden als Vorteil für Firmen

Während die Gewerkschaften mit zahlreichen Chroniken und Pressemeldungen 75 Jahre Tarifvertragsgesetz feiern, ist die Stimmung bei den Arbeitgeberverbänden verhaltener. Doch auch hier heißt es, das Tarifvertragsgesetz sei eine "bewährte Grundlage für stabile Arbeitsbeziehungen & wirtschaftlichen Erfolg", wie etwa der Bundesverband der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) in einem Tweet auf der Nachrichtenplattform X schreibt.

Der Verband erinnert auf seiner Website an die Vorteile von Flächentarifverträgen für Unternehmen, etwa dass der Betriebsfrieden dadurch gewahrt werde - und an die finanzielle Planungssicherheit.

Doch wie auch die Gewerkschaften dringen die Arbeitgeber auf Reformen, um das Tarifsystem langfristig zu stabilisieren. Nur beim Weg dahin setzen sie auf andere Instrumente.

Arbeitgeber fordern Flexibilisierung

Arbeitgeberverbände wie der BDA fordern zum Beispiel die Flexibilisierung von Tarifverträgen anhand eines Baukastenprinzips. Gemeint ist damit, dass Unternehmen etwa nur den Baustein Löhne herausgreifen, aber nicht die darin vereinbarten Arbeitszeitregeln anwenden müssen. Die Idee dahinter: So könnten etwa auch Unternehmen an Tarifverträge herangeführt werden, die dem Modell bisher skeptisch gegenüberstanden. Denn Flächentarifverträge kämen aus einer Zeit, in der es vor allem um große Betriebe ging - für kleine seien die Regelwerke teils zu komplex. 

Die Gewerkschaften lehnen das ab. Bei ihnen besteht die Sorge, dass das Tarifsystem dadurch ausgehöhlt werden könnte.

BDA sieht Koalitionsfreiheit verletzt

Auch in Sachen Allgemeinverbindlichkeit zielen die Forderungen von Gewerkschaft und den Arbeitgebern in gegensätzliche Richtungen. Die BDA will das Instrument nicht ausweiten, sondern einschränken.

2015 hatte die Große Koalition die Voraussetzungen für eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung erleichtert. Das bisherige 50-Prozent-Kriterium - sprich: dass 50 Prozent der Beschäftigten im Geltungsbereich bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt sein müssen - entfiel. Der Verband sieht dadurch die grundgesetzlich garantierte Koalitionsfreiheit verletzt.

Arbeitsministerium will Sozialpartner stärken

Auch wenn Arbeitgeber neuen staatlichen Eingriffen auf dem Feld der Tarifpartner insgesamt eher ablehnend gegenüberstehen, an einer Stelle sieht der BDA Handlungsbedarf: "Wir brauchen ein klares Arbeitskampfrecht, ganz besonders für die Bahn und die vergleichbaren Bereiche", sagte BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter der "Rheinischen Post" mit Blick auf die Streiks der Lokführergewerkschaft GDL in diesem Jahr.

Auch Arbeitsminister Hubertus Heil will die Sozialpartner stärken. Vorgesehen ist im aktuellen Koalitionsvertrag aber weder ein Arbeitskampfrecht, noch sind es Änderungen in Sachen Allgemeinverbindlichkeitserklärung. Das Ministerium verweist auf tagesschau.de-Anfrage auf andere im Koalitionsvertrag vereinbarte Maßnahmen - etwa die gesetzliche Verankerung des digitalen Zugangsrechts für Gewerkschaften und die Fortgeltung von Tarifverträgen bei Ausgliederungen. 

Öffentliche Aufträge nur für tarifgebundene Firmen?

Doch das zentrale Vorhaben der Bundesregierung dazu - das Bundestariftreuegesetz - steckte zuletzt über Monate fest. Es soll regeln, dass öffentliche Aufträge des Bundes nur an Unternehmen vergeben werden, die nach Tarif zahlen.

Ein weiterer Vorhaben der Ampel ist eigentlich, das sogenannte "Union Busting" - das systematische Herausdrängen von Gewerkschaften durch Arbeitgeber - zum Offizialdelikt zu erklären. Doch etwas mehr als ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl ist es die Regierung noch nicht angegangen. Ein Offizialdelikt ist eine Straftat, bei der Staatsanwaltschaften selbsttätig ermitteln müssen - etwa, wenn es einen Anfangsverdacht gibt, dass ein Betriebsrat vorsätzlich behindert oder gar zerschlagen wurde.

Auf Anfrage heißt es vom Arbeitsministerium aber, der Gesetzenwurf solle noch in diese Legislaturperiode vorgelegt werden.