Steigende Mitgliederzahlen Warum Gewerkschaften wieder großen Zulauf haben
Gewerkschaften verzeichnen teils stark steigende Mitgliederzahlen - auch viele junge Menschen wollen sich gewerkschaftlich organisieren. Forscher beobachten ein neues Selbstbewusstsein bei Beschäftigten.
Für die Gewerkschaften ist es eine gute Nachricht: Die Mitgliederzahlen steigen. Das gilt für kleine Organisationen wie die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) genauso wie für die große Dienstleistungsgewerkschaft ver.di.
Der IG Metall traten im vergangenen Jahr fast 130.000 neue Mitglieder bei. "Ver.di kommt bei jungen Menschen überdurchschnittlich gut an", so der Vorsitzende Frank Werneke. Eine vergleichbar positive Mitgliederentwicklung habe es zuletzt Mitte der 1980er-Jahre gegeben, als die Gewerkschaften für die 35-Stunden-Woche stritten.
Weniger Ansehen, weniger Einfluss
Das ist eine ungewöhnliche Entwicklung, denn vielen Gewerkschaften geht es seit Jahren genauso wie anderen Institutionen: Die demografische Entwicklung macht sich bemerkbar. Ältere Mitglieder sterben langsam weg oder verabschieden sich in den Ruhestand.
In den vergangenen Jahrzehnten ist zudem die Tarifbindung in Deutschland kontinuierlich zurückgegangen, schreiben die Forscher beim gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI). "Im Jahr 2022 waren nur noch knapp ein Viertel aller Betriebe und etwa die Hälfte aller Beschäftigten an einen Tarifvertrag gebunden." Und das ist nicht nur ein Problem von Kleinen- und Kleinstbetrieben. Für viele Gewerkschaften bedeutet das vor allem: weniger Ansehen, weniger Macht und weniger Einfluss.
Streiks sind gut für Mitgliederwerbung
Dass gerade junge Menschen wieder Interesse daran zeigen, sich gewerkschaftlich zu organisieren, mag mit den vielen Streiks in der jüngsten Vergangenheit zu tun haben. Ob im Einzelhandel, bei den Fluggesellschaften oder jüngst bei der Deutschen Bahn: Viele Beschäftigte haben ihre Arbeit niedergelegt, um für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen auf die Straße zu gehen - und das teilweise über mehrere Tage hinweg.
Die wirtschaftliche Lage und auch der wachsende Fach- und Arbeitskräftemangel schaffen bei vielen Beschäftigten ein neues Selbstbewusstsein. "Ob Deutschland wirtschaftlich zukunftssicher aufgestellt ist und wettbewerbsfähig bleibt, hängt in starkem Maße auch davon ab, ob gut ausgebildete und qualifizierte Beschäftigte verfügbar sind", so die Forscher beim WSI. Viele Beschäftigte wollen entsprechende Wertschätzung. Gewerkschaftlich organisiert zu sein gibt Rückenwind, den Forderungen Nachdruck zu verleihen.
Arbeitswelt verändert sich
Von einem langfristigen Trend will Gewerkschaftsforscher Hagen Lesch vom arbeitgebernahen Institut der Wirtschaft (IW Köln) aber nicht sprechen - zumal viele Babyboomer bald in den Ruhestand gehen. Sie gehören zu der Generation, in der es zumindest in einigen Industriebereichen für viele Beschäftigte selbstverständlich war, gewerkschaftlich organisiert zu sein.
Und was man auch nicht vergessen darf: Die Arbeitswelt verändert sich. War es jahrzehntelang gang und gäbe, dass die Beschäftigten im Betrieb an einem Ort zusammengearbeitet haben, so ist jetzt standortübergreifenede Teamarbeit an der Tagesordnung. Das geschieht oft über Ländergrenzen hinweg.
Zudem ändern sich Arbeitsabläufe und Arbeitsorganisationen. "Atypische Arbeitsverhältnisse werden zunehmen", fürchtet Christiane Benner, die Vorsitzende der IG Metall, der größten Einzelgewerkschaft in Deutschland. "Gute Arbeit in der Transformation" ist die große Herausforderung. Die Gewerkschaften müssen darauf neue Antworten finden. Steigen die Mitgliederzahlen, gibt das mehr Verhandlungs- und Gestaltungsspielräume.