Letzte AKW gehen vom Netz Was das Atom-Aus bedeutet
Am Wochenende werden in Deutschland die letzten drei Atomkraftwerke abgeschaltet. Welche Folgen hat das für die Stromversorgung? Gibt es Auswirkungen auf die Strompreise? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wie viel Strom produzierten die Atomkraftwerke zuletzt?
Am Samstag sollen die drei verbliebenen Kernkraftwerke - Isar 2 in Bayern, Emsland in Niedersachsen und Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg - in Deutschland endgültig vom Netz gehen. Bis zum Schluss produzieren sie viel Strom. So wird etwa das RWE-Kraftwerk Emsland im niedersächsischen Lingen allein in diesem Jahr bis zum 15. April nach Unternehmensangaben rund zwei Milliarden Kilowattstunden erzeugt haben. "Das entspricht etwa dem Jahresstrombedarf von rund 500.000 Haushalten", sagt ein Sprecher.
Nach der Abschaltung steht dieser Strom nicht mehr zur Verfügung. Auch die Anlage Neckarwestheim 2 soll laut EnBW in den letzten Wochen bis zum Atom-Aus bis zu 1,7 Milliarden Kilowattstunden Strom produziert haben. Das Kraftwerk Isar 2 produzierte dagegen jährlich rund 11 Milliarden Kilowattstunden Strom, und damit knapp zwölf Prozent des gesamten bayerischen Stroms.
Im deutschlandweiten Energiemix spielte der Atomstrom zuletzt allerdings eine vergleichsweise geringe Rolle. Laut Bundesnetzagentur kam 2022 nur noch 6,5 Prozent des erzeugten Stroms aus den letzten AKW.
Ist die Versorgungssicherheit gefährdet?
Von der Bundesnetzagentur gibt es auf diese Frage eine klare Antwort: "Nein", heißt es dort entschieden. Es stehe genügend gesicherte Kraftwerksleistung aus anderen Anlagen bereit, um die Stromnachfrage auch nach Abschaltung der Atomkraftwerke zu decken. Auch aus Sicht des Bundeswirtschaftsministeriums ist die Versorgungssicherheit weiter gewährleistet. Dass keine erhöhte Gefahr eines Stromausfalls besteht, bestätigte am Donnerstag zudem der private Netzbetreiber Amprion. Es gebe ausreichend Reservekapazitäten für die Stromerzeugung.
Andreas Löschel, Umwelt und Ressourcen-Ökonom an der Ruhr-Universität Bochum, sagte gegenüber tagesschau24, dass man sich "keine Gedanken machen" müsse. "Die Lichter werden nicht ausgehen." Klar sei jedoch, dass sich durch das Abschalten der Kraftwerke die Situation verschlechtere.
Was hat der Weiterbetrieb bis Mitte April gebracht?
Einen eher überschaubaren Beitrag. Im Januar und Februar hatte Atomenergie nach Angaben des Branchenverbandes BDEW einen Anteil von vier Prozent an der Stromerzeugung in Deutschland - ein Drittel weniger als im Gesamtjahr 2022. Manuel Frondel vom RWI Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen sagte, der Weiterbetrieb sei insofern hilfreich gewesen, als dass französische Atomkraftwerke in großer Zahl noch immer nicht am Netz seien.
"Das Stromangebot in Europa war im Winter also niedriger als sonst, und die Nachfrage ist andererseits im Winter besonders hoch, nicht zuletzt, da in Frankreich viele Haushalte mit Strom heizen." Der Weiterbetrieb deutscher Atomkraftwerke habe nicht nur zur Versorgungssicherheit beigetragen, sondern auch geholfen, dass teure Erdgaskraftwerke weniger zum Einsatz kamen. Das habe sich dämpfend auf Strompreise ausgewirkt. Insgesamt seien die Effekte durch den Weiterbetrieb überschaubar gewesen, aber keinesfalls vernachlässigbar.
Wie sinnvoll wäre ein Betrieb bis Ende 2023 gewesen?
Aus Sicht von Mirko Schlossarczyk von der Beratungsgesellschaft Enervis wäre der Preiseffekt bei einer Verlängerung der Laufzeit bis Jahresende sehr überschaubar gewesen. Der Stromgroßhandelspreis hätte 2023 im Jahresmittel um drei Euro je Megawattstunde niedriger gelegen. "Für Haushaltskunden wäre das ein um 0,3 Cent je Kilowattstunde geringerer Preis, ein Rückgang von nicht einmal einem Prozent."
Wie wirkt sich der Ausstieg auf die Strompreise aus?
"Die Marktakteure haben sich bereits auf die neue Situation eingestellt. Strom wird bereits jetzt für die kommenden Wochen und Monate gehandelt, und es sind keine Preisanstiege an den Märkten erkennbar", sagt dazu Energiemarkt-Expertin Christina Wallraf von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen.
Auf die Strompreise für Haushaltskunden erwartet das Vergleichsportal Verivox kurzfristig keine konkreten Auswirkungen. "Mittel- bis langfristig könnte die Abschaltung schon Auswirkungen haben, da mit der Kernkraft günstige Stromkapazitäten aus dem Markt genommen werden, die vor allem in Zeiten hoher Nachfrage ersetzt werden müssen", sagt Energieexperte Thorsten Storck. "Hier wird es darauf ankommen, wie schnell der Ausbau der Erneuerbaren voranschreitet und wie gut die fehlenden Kapazitäten ausgeglichen werden können."
Wirtschaftsverbände machen sich dagegen größere Sorgen um das Kernkraft-Aus in Deutschland. Markus Jerger, Vorstand des Mittelstandsverbandes BVMW, sagte den Funke-Zeitungen, dass der Atomstrom bisher relativ günstig und der versorgungssicherste gewesen sei. Aktuell habe Deutschland weltweit die höchsten Energiepreise. "Und manche Branchen gehen deshalb auf den Knien."
Wohin entwickeln sich die Strompreise?
Laut Verbraucherzentrale sind die Strompreise für Haushaltskunden, die einen neuen Tarif abschließen wollen, deutlich gesunken. "Aktuell gibt es Stromtarife ab circa 32 Cent pro Kilowattstunde plus Grundpreis", sagt Wallraf. Für die kommenden Monaten rechnet sie mit einer weiteren Entspannung: "Es werden noch mehr Anbieter um Kunden werben mit Preisen leicht oberhalb der 30-Cent-Marke." Für Bestandskunden sind die Tarife dagegen noch besonders hoch - laut dem Vergleichsportal Verivox bei 44,4 Cent pro Kilowattstunde.
Auch das Vergleichsportal Check24 sieht "weiterhin eine positive Entwicklung der Strompreise". Haushalte könnten nach dem Ende des Winters vor allem bei alternativen Anbietern mit günstigen Preisen rechnen, sagt Energie-Geschäftsführer Steffen Suttner. "Die Entwicklung bleibt allerdings abhängig von den weltpolitischen Ereignissen sowie den Füllständen der Gasspeicher."
Energieexperte Löschel gibt dagegen noch keine Entwarnung für die Strompreisentwicklung der nächsten Jahre. Auch im nächsten und übernächsten Jahr rechnet er mit Strompreisen von über 10 Cent pro Kilowattstunde - und damit deutlich über Vorkriegsniveau.
Was raten Verbraucherschützer?
Laut der Verbraucherzentrale NRW zahlen viele Haushalte aktuell "noch sehr hohe Preise", die jenseits der 40 oder sogar 50 Cent pro Kilowattstunde lägen. Wallraf empfiehlt daher, zeitnah zu wechseln, sofern man seinen Vertrag jetzt kündigen könne. Auch Tarife eines Stadtwerks könnten eine Option sein, gerade für Kunden, die in der Energiekrise schlechte Erfahrungen mit Discountern gemacht hätten.
Wer übernimmt die Produktion der drei Anlagen?
Kurzfristig entscheide das Marktgeschehen auf den Spotmärkten, welche Kraftwerke tatsächlich Strom produzierten, sagt ein Sprecher der Netzagentur. "Dabei werden jeweils die preiswertesten, aktuell zur Verfügung stehenden Erzeugungstechnologien zuerst eingesetzt. Langfristig haben sich die Händler und Versorger je nach Beschaffungsstrategie seit langem mit ausreichend Strom für die kommenden Monate und Jahre eingedeckt."
Sind also keine Probleme zu erwarten?
Experte Christian Rehtanz hält die Versorgungssicherheit zumindest die nächsten Monate für nicht gefährdet. Kohlekraftwerke seien zurück in den Markt geholt worden, sagt der Professor für Energiesysteme und Energiewirtschaft an der TU Dortmund. "Damit stehen dem Markt nun etwa sieben Gigawatt zusätzliche Kraftwerkskapazität zur Verfügung", so der Enervis-Experte Schlossarczyk. Zudem seien Kapazitäten im Übertragungsnetz erweitert worden und könnten effizienter genutzt werden. Weil der Gaspreis stark gesunken sei, könnten Gaskraftwerke vermehrt in der Stromerzeugung eingesetzt werden.
Wie wird die Atomenergie ersetzt?
Nach dem Atomausstieg strebt die Bundesregierung bis 2030 auch einen Ausstieg aus der Kohleverstromung an. "Damit steigen wir aus wichtigen Säulen für die gesicherte Stromerzeugung aus, also Kraftwerken, die liefern, wenn Wind und Sonne nicht bereitstehen", sagt Timm Kehler vom Branchenverband Zukunft Gas. Neben Erneuerbaren Energien müssten schnellstmöglich wasserstofffähige Gaskraftwerke aufgebaut sowie weitere, flexibel steuerbare Kapazitäten wie Stromspeicher verfügbar gemacht werden.
RWI-Experte Frondel sagt mit Blick auf den Kohleausstieg, zusätzliche Erdgaskraftwerke hätten längst gebaut werden müssen. "Deutschland lebt zunehmend vom Prinzip Hoffnung und vertraut darauf, dass die Nachbarländer die wegfallenden Kapazitäten ausgleichen. Das ist aber wegen begrenzter grenzüberschreitender Netzkapazitäten nur eingeschränkt möglich."
Die tagesthemen vor Ort senden heute um 22.15 Uhr live vom Gelände des Atomkraftwerks Isar 2.