Leere Bahngleise

Umbau des Schienennetzes Eine digitalere Bahn - erst in Jahrzehnten?

Stand: 07.11.2024 06:44 Uhr

Pünktlicher, zuverlässiger und mehr Züge - so soll die Verkehrswende gelingen. Nötig hierfür ist nicht nur die Generalsanierung, sondern auch die Digitalisierung des Schienenverkehrs. Doch die kommt nicht voran.

"Mit der Digitalisierung der Schieneninfrastruktur würden wir viele Probleme lösen", heißt es von Hans Leister, Experte und Berater für Bahnentwicklung mit Schwerpunkt auf Bahn-Digitalisierung aus Berlin. Er erklärt die Vorteile für Fahrgäste so: "Stellen Sie sich vor, zwei Züge fahren aus unterschiedlichen Richtungen auf dasselbe Gleis zu. Bisher muss ein Zug dann anhalten und warten, bis die Strecke wieder frei ist." Durch die digitale Zugsteuerung soll das anders werden. "Dann bekommt der eine Zug den Befehl, 20 Stundenkilometer langsamer zu fahren. Er bringt sich elegant hinter den anderen Zug in den Ablauf ein."

Ein Großteil der Verspätungen entstehe, wenn ein Zug auf offener Strecke stehen bleibt. Das wäre durch die intelligente digitale Steuerung vorbei. Diese digitale Technik soll - seit 2018 unter dem Titel "Digitale Schiene Deutschland" - eigentlich bundesweit ausgerollt werden. Eine Recherche vom SWR hat aber vor einigen Wochen aufgedeckt: Genau diese Digitalisierungsstrategie will die Bahn jetzt nach Dokumenten, die dem SWR vorliegen, vorerst stoppen. Gefragt wäre nach Expertenmeinung vor allem ein Machtwort der Bundesregierung.

Mehr Kapazität auf der Schiene

Es gibt noch weitere Vorteile: Die neue Technik soll zuverlässiger sein. Und die Abstände der Züge hintereinander würden dichter werden. Bisher fahren Züge entlang der Signalanlagen, die an der Strecke aufgestellt sind. Diese zeigen, ob der nächste Streckenabschnitt frei ist, und müssen daher immer einen gewissen Abstand haben. Durch das neue europäische Zugsicherungssystem ETCS ("European Train Control System") sieht die Lokführerin oder der Lokführer dann auf dem Bildschirm im Führerstand, wie lange die Strecke vor dem Zug frei ist und wie schnell gerade gefahren werden darf. Die Folge: Die Abstände können verdichtet werden, mehr Züge könnten hintereinander auf den Strecken fahren. Von 20 bis 35 Prozent mehr Kapazität ist bei der Bahn die Rede. Und das, ohne neue Strecken bauen zu müssen.

Dafür braucht es aber zwei wesentliche Komponenten: das System, wie Züge geleitet werden, müsste großflächig auf ETCS umgerüstet werden - sowohl die Strecken als auch die Fahrzeuge. Und die gesamte Stellwerkstechnik müsste durch moderne sogenannte digitale Stellwerke ersetzt werden. In Anbetracht des stark überlasteten Streckennetzes scheint vielen Bahningenieuren dieser Schritt zwingend notwendig.

Die neue europäische Norm

Zumindest das Zugleitsystem ETCS wird bereits in anderen Ländern verwendet. Der Name sagt es: Das System soll der neue europäische Standard werden, um den grenzüberschreitenden Zugverkehr zu vereinheitlichen und zu vereinfachen.

Österreich und die Schweiz haben bereits ETCS auf vielen Strecken verbaut. Österreich rüstet darüber hinaus einen Großteil der Züge für den europäischen Eisenbahnverkehr um. Auch Norwegen und Tschechien wollen das gesamte Schienennetz auf ETCS umstellen. Und auch auf zwei Strecken in Deutschland gilt inzwischen der neue europäische Standard: ICE-Züge fahren zwischen Erfurt und Halle beziehungsweise Leipzig sowie in Baden-Württemberg zwischen Wendlingen und Ulm mit dem "European Train Control System". Auch bei der Generalsanierung der Riedbahn zwischen Mannheim und Frankfurt wird die Strecke gerade mit ETCS ausgerüstet.

Digitale Stellwerke sind dringend nötig

Die Bilanz bei den Stellwerken in Deutschland ist nach wie vor ernüchternd. Laut dem Zustandsbericht der Bahn aus dem Jahr 2023 werden nach wie vor 565 Stellwerke mechanisch - also mit Seilzügen und Stellhebeln - betrieben. Diese Technik stammt noch aus dem Kaiserreich. Zudem gibt es mehr als eintausend sogenannte Relaisstellwerke; eine Technik, die aus den 1960er-Jahren stammt. Und einige hundert elektronische Stellwerke, die bisher neuste Variante, wurden seit den 1990er-Jahren eingebaut.

Letztere arbeiten schon zum Teil digitalisiert, aber komplett digitale Stellwerke, die nicht mehr analog Weichen, Signale und Bedienelemente in den Gleisen ansteuert, sind in Deutschland noch weitgehend Neuland. Beim Großprojekt Stuttgart 21 wird in Baden-Württemberg erstmals ein gesamter Bahnknoten nicht nur mit ETCS, sondern auch mit einem digitalen Stellwerk ausgerüstet. Auch Störungen soll es dann weniger geben.

Man kann zwar auch mit den herkömmlichen elektronischen Stellwerken ETCS betreiben. Engere Zugfolgen und intelligentes Fahren sind laut Leister aber nur in der Kombination mit digitalen Stellwerken möglich: "Denn erst dann können weitere Techniken ergänzt werden, die den Fahrbetrieb optimieren."

Probleme mit ETCS

In der Theorie kling das alles gut. 2018 beschloss die Bundesregierung das Projekt Digitale Schiene Deutschland. Doch das Projekt scheint noch nicht ausgereift. Statt den Zugverkehr zuverlässiger zu machen, führt ETCS bisher immer wieder zu Zugausfällen. Eine Recherche der ARD-Sendung Plusminus hat im September 2023 aufgedeckt: Immer wieder müssen in Deutschland Züge wegen Störungen um ETCS-Strecken herumgeleitet werden.

Im Vergleich zu Schweiz und Österreich wird in Deutschland die neueste ETCS-Version verwendet, die ist aber noch in der Entwicklungsphase. Kinderkrankheiten werden noch analysiert und ausgebessert. Auch der Einbau von ETCS stockt. Beispiel Riedbahn: Wenn zwischen Mannheim und Frankfurt der Fahrbetrieb im Dezember wieder aufgenommen wird, ist laut internen Bahnunterlagen ETCS noch nicht fertig. Die ICE-Züge werden für mehrere Monate auf einigen Abschnitten nur 160 statt 200 Stundenkilometer fahren.

Und bei der Sanierung der Bahnstrecke Berlin-Hamburg im kommenden Jahr hat man sich laut Bahninsidern jetzt überraschenderweise gegen den Einbau von ETCS entschieden. Hierüber hatte Tagesspiegel Backround zuerst berichtet. Dort soll erneut die bisherige Zugsicherungstechnik verbaut werden - ohne europäischen Standard. Doch ist an allem die Bahn schuld?

Zu teuer und zu langsam?

"Seit Beginn geht es zu langsam voran, und die Bundesregierung schreitet nicht ein", sagt Leister. Das macht sich auch finanziell bemerkbar. Statt mit ursprünglich 32 Milliarden Euro rechnet das Bundesverkehrsministerium inzwischen mit 68,9 Milliarden Euro für die Digitale Schiene Deutschland. Die Bahn braucht also mehr Geld vom Bund.

Nach SWR-Recherchen von Anfang September hat deswegen die Bahntochter DB InfraGo entschieden, die Digitalisierung vorerst zu stoppen und die Strecken mit der herkömmlichen Technik zu sanieren. Wenn dann das Streckennetz nicht mehr marode wäre, könne man sich mit der Digitalisierung beschäftigen, heißt es von einem Bahnvertreter. Ein Trugschluss, so Leister: "Man muss die Generalsanierung jetzt nutzen, um zu digitalisieren. Sonst müssen wir in ein paar Jahren ja wieder alles aufreißen." Klar sei aber auch: "Diejenigen, die jetzt handeln müssen, ist die Bundesregierung."

Chaotisches Vorgehen bei Bahn und Politik

Denn laut Bahn-Insidern ist die Koordination der Digitalisierung chaotisch. Absprachen zwischen den zuständigen Stellen innerhalb der Bahn, aber auch mit den Verantwortlichen aus Politik fänden nicht statt, so ein Bahnmitarbeiter. Eine neue, nicht veröffentlichte Untersuchung, die mit Unterstützung der Unternehmensberatung McKinsey erstellt wurde, bestätigt diese Wahrnehmung. In einem Entwurf der Studie, die dem SWR vorliegt, geht der Hauptkritikpunkt an das Bundesministerium für Digitales und Verkehr: "Es bedarf einer zentralen Gesamtsteuerung und der Systemführerschaft im BMDV." Diese habe das Verkehrsministerium, obwohl von Beginn an dringend notwendig, nie übernommen.

Auch die Landesverkehrsminister haben kürzlich deutlich an Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) die Forderung gestellt, tätig zu werden. Aus Mitarbeiterkreisen der Bahn heißt es, dass nur die Bundespolitik die Digitalisierung retten könne.

"Es ist doch absurd", sagt Experte Leister, "dass ausgerechnet das Ministerium, das sowohl für Digitalisierung wie für die Bahn zuständig ist, beides nicht umgesetzt bekommt." Stattdessen scheinen sich gerade alle Verantwortlichen in einer Schockstarre zu befinden. Fragt man bei der der Pressestelle der Bahn und des Bundesverkehrsministeriums nach, heißt es unverändert: Man wolle an der Digitalisierungsstrategie festhalten. Konkreter wird man nicht.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 28. September 2024 um 16:47 Uhr.