Neue EZB-Präsidentin Bonjour, Madame Lagarde!
Die neue EZB-Präsidentin Lagarde fackelt nicht lange: Die Französin will die Strategie der EZB auf den Prüfstand stellen. Das könnte die europäische Geldpolitik normalisieren und zu steigenden Zinsen führen.
"Kommen Sie rechtzeitig", sagt die freundliche Sprecherin der Europäischen Zentralbank (EZB) am Telefon, als sie die Anmeldungen für die Pressekonferenz durchgeht. "Es wird voll. Sehr voll." Tatsächlich geben sich Massen von Medienvertretern aus ganz Europa diese Woche in Frankfurt ein Stelldichein, wenn sich die Notenbank wie immer nach einer Sitzung des EZB-Rates der Öffentlichkeit stellt. Denn dieses Mal ist alles anders: Christine Lagarde, die neue Präsidentin der EZB, leitet die erste Ratssitzung im imposanten Euro-Tower am Main und geht hinterher vor die Presse.
Seit Anfang November ist sie als Nachfolgerin von Mario Draghi im Amt und hat bereits jetzt die Notenbank kräftig in Wallung gebracht. Für die EZB, die mit ihren gerade einmal 20 Jahren eine der agilsten, flexibelsten und wendigsten Institutionen der Europäischen Union darstellt, ist das nicht ungewöhnlich.
Erstmals eine Frau an der EZB-Spitze
Doch der Stempel, den die Französin der Notenbank schon jetzt aufdrückt, ist etwas Besonderes - und für die insgesamt eher konservative und etwas angestaubte Notenbank-Welt eine kleine Revolution: Zum ersten Mal steht eine Frau an der Spitze der EZB. Dazu noch eine, die vorher noch nie in einer nationalen Zentralbank gearbeitet hat, statt Wirtschaft Jura studierte und als Politikerin mit dem ganzen Gerede, den Worthülsen und dem vielen Tamtam des elitären Clubs der Zentralbank-Welt, nicht viel anfangen kann.
Sie ist eine Frau, deren imposantes Auftreten für Aufsehen sorgt, die sich als angesehene französische Finanzministerin einen Namen gemacht hat und die den Internationalen Währungsfonds (IWF) zu neuem Ansehen und Respekt geführt hat, während sie mit Ausnahme von ein paar Kleinigkeiten kaum in ein Fettnäpfchen getreten ist.
Strategie auf dem Prüfstand
So hat die 63-Jährige dem EZB-Rat auch gleich vor der ersten gemeinsamen Sitzung eine Reform verordnet: Die Notenbank müsse ihre Strategie auf den Prüfstand stellen und hinterfragen, ob ihre Geldpolitik und deren Prämissen noch zeitgemäß sind. Auf einer Banken-Konferenz in der Main-Metropole vor wenigen Wochen, ihrem ersten öffentlichen Auftritt als neue EZB-Chefin in Frankfurt, gab sie die Marschroute vor.
Auf dem Prüfstand steht vor allem, ob die zentrale Aufgabe der EZB noch angemessen definiert ist. Die besteht darin, Preisstabilität in der Eurozone zu gewährleisten. Mit diesem "Mandat" muss jede geldpolitische Entscheidung der EZB in Einklang stehen. Die Ausrichtung auf dieses Ziel hat oberste Priorität und auch keine Konkurrenz.
Während andere Notenbanken ebenfalls stabile Preise und eine Inflation, also Geldentwertung, verhindern wollen, richten sie ihre Politik auch an anderen Dingen aus: etwa die Wirtschaft anzukurbeln und Arbeitslosigkeit zu senken. Bei der US-Notenbank zum Beispiel sind all diese Ziele gleich gewichtet. Nicht so bei der EZB. Hier steht Preisstabilität über allem.
Definition von Preisstabilität
Lagarde will diese Prämisse nicht ändern. Aber sie will überprüfen lassen, ob die Definition von Preisstabilität, wie sie die EZB verfolgt, noch zeitgemäß ist. Die Zentralbank sieht Preisstabilität als gegeben, wenn die Inflationsrate nahe, aber leicht unter zwei Prozent liegt. Ein Ziel, das seit Jahren nicht mehr erreicht wird. Hauptgrund ist selbstverständlich die Finanzkrise - ihre massiven Folgen bestimmen das Wirtschaftsgeschehen immer noch ganz zentral.
Doch auch andere Faktoren spielen eine gravierende Rolle: die Globalisierung etwa. Sie hat zu einem massiven Wettbewerb rund um den Globus geführt. Das hält die Preise in Schach, drückt sie tendenziell nach unten und senkt damit auch die Inflationsrate.
Preisdruck durch technischen Fortschritt
Ein weiterer Einflussfaktor ist die Digitalisierung: Sie führt dazu, dass es heute viel leichter ist, Preise zu vergleichen. Notwendige Informationen dazu werden per Mausklick in Windeseile rund um den Globus geschickt. Was früher Wochen und Monate brauchte, geschieht heute in Sekunden. Wenn man aber sofort weiß, wo ein Produkt am billigsten zu haben ist, verschärft das ebenfalls den Wettbewerb und drückt die Preise.
Schließlich sorgt der technische Fortschritt für Preisdruck. War ein Toaster, Föhn oder Radio vor wenigen Jahrzehnten noch ein Luxus-Produkt, so ist ihre Produktion heute so billig, dass diese Elektro-Artikel den Kunden beim Discounter nachgeworfen werden - auch deshalb, weil die Sättigung mit diesen Produkten in den industrialisierten Gesellschaften extrem hoch ist. Auch diese Entwicklungen drücken den Preis.
EZB weiterhin im Krisenmodus
Das Knapp-Zwei-Prozent-Ziel ist also kaum noch zu erreichen, eine Diskussion, ob die Definition noch zeitgemäß ist, daher mehr als überfällig. Auch unter Vorgänger Draghi gab es entsprechende Überlegungen. Doch bislang blieb es dabei. Denn Kritiker wandten immer wieder ein, dass die EZB in Zeiten des Krisen-Modus die Definition des Mandates nicht ändern dürfe. Das Nahe-Zwei-Prozent-Ziel war damit sakrosankt.
Zwar ist die EZB auch weiterhin im Krisen-Modus, denn niemand kann ernsthaft behaupten, Europa habe mit all den außerordentlichen Maßnahmen eine normale Geldpolitik. Doch ergibt es auch keinen Sinn, einem Gespenst nachzujagen, das ohnehin nicht zu erreichen ist.
Nach acht Jahren endete die Amtszeit von EZB-Chef Mario Draghi.
Schlüssel für eine Normalisierung der Geldpolitik
Für die Bevölkerung hätte eine Neu-Definition des Inflationsziels gravierende Folgen. Diese Mal allerdings positive. Denn würde die EZB die angestrebte Inflation etwa bei 1,5 Prozent oder gar nur einem Prozent definieren, wäre dieses Ziel in der gegenwärtigen Situation natürlich viel leichter zu erreichen. Derzeit beträgt die Inflationsrate 1,0 Prozent.
Das wiederum müsste eine Änderung der Geldpolitik nach sich ziehen. In dem Moment, in dem das Inflationsziel erreicht ist, haben außerordentliche Maßnahmen und niedrige Zinsen keine Berechtigung mehr. Die Korrektur des Inflationsziels könnte also der Schlüssel für eine Normalisierung der Geldpolitik werden. Konkret hieße das: Es gäbe wieder Zinsen auf dem Sparbuch, Versicherungen, Pensionskassen und damit die Altersvorsorge würden entlastet, aus dem überhitzten Immobilienmarkt würde etwas Luft herausgenommen und auch die Übertreibungen am Aktienmarkt könnten zurück gehen.
Die neue EZB-Präsidentin Christine Lagarde will überprüfen lassen, ob die Definition von Preisstabilität, wie sie die EZB verfolgt, noch zeitgemäß ist.
Fehlende Erfahrungen bei derartigen Änderungen
Die Korrektur wäre nicht ganz ungefährlich, weil man mit derartigen Änderungen keine großen Erfahrungen hat. Aber sie ist notwendig, weil die EZB eine Politik machen muss, die sich an den realen wirtschaftlichen Verhältnissen ausrichtet und nicht an einer theoretischen Zahl aus vergangenen Zeiten.
Die nächsten Wochen dürften also spannend werden. Lagarde hat bereits angekündigt, umgehend mit der Überprüfung der Strategie zu beginnen. Allzu lange wird sie also nicht fackeln. Mal sehen, wie sehr sie diese Woche den EZB-Rat in Schwung bringt.