DB-Klage gegen die GDL "Rechtsprechung hierzulande recht streikfreundlich"
Die Bahn wollte den neuerlichen Bahnstreik vor Gericht stoppen und ist damit gescheitert. Die Arbeitsrechtlerin Lena Rudkowski sagt, die "Wellenstreiks" der GDL seien juristisches Neuland.
tagesschau.de: Was sagen Sie zur Eilklage der Bahn gegen die GDL?
Lena Rudkowski: Generell ist das Arbeitsgericht Frankfurt bekannt dafür, das Streikrecht hoch anzusiedeln. Es argumentiert, um einen Streik gerichtlich einzuschränken muss dieser offensichtlich rechtswidrig sein. Es reicht nicht, dass der Streik sich bei einer genaueren Prüfung als rechtswidrig erweist. Das ist eine hohe Hürde.
Lena Rudkowski ist Professorin für Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zu ihren Schwerpunkten gehört neben arbeitsrechtlicher Compliance auch das Arbeitskampfrecht. Seit 2022 ist sie Dekanin des Fachbereichs Rechtswissenschaft an der JLU.
Streiks werden gerichtlich nur sehr selten gekippt
tagesschau.de: Was heißt denn offensichtlich rechtswidrig?
Rudkowski: Umgangssprachlich ausgedrückt: Es springt Ihnen ins Auge, dass der Streik so nicht stattfinden kann. Also etwa wenn Leib und Leben gefährdet sind durch einen Streik, etwa im Gesundheitsbereich. Das ist beim Bahnstreik schwerer, damit zu argumentieren.
tagesschau.de: Wie erfolgreich sind denn generell Versuche, Streiks zu verbieten?
Rudkowski: Es ist Jahre her, dass es funktioniert hat. Die Rechtsprechung hierzulande ist recht streikfreundlich. Die Arbeitsgerichte argumentieren: Die Arbeitnehmer haben ein Recht auf Streik, dann müssen sie es ausüben können. Das ist eben das Konzept des Streikes - wirtschaftlichen Schaden anzurichten, um auf die Gegenseite Druck auszuüben.
Gefahr für Leib und Gesundheit?
tagesschau.de: Hat es denn schon einmal Urteile gegeben, wo es doch mal dazu gekommen ist?
Rudkowski: Zuletzt hatten wir in Hamburg ein Urteil, das den Streik eingeschränkt hat. Da sollte die Steuerungszentrale für den Elbtunnel bestreikt werden und der Tunnel an einem Tag dicht gemacht werden, an dem auch der ÖPNV und die Bahn gestreikt haben. Da hat das Landesarbeitsgericht gesagt, dass ein Verkehrschaos in ganz Hamburg eintreten und sich die Rettungswege durch diese flächigen Auswirkungen verlängern würden, daher war durch eine Notbesetzung der Tunnel offenzuhalten. Dann sind wir wieder beim Schutz von Leib und Leben, der das Streikrecht überwiegt. Aber bei der Bahn ist das natürlich kaum zu argumentieren.
tagesschau.de: Was gibt es sonst für Gründe als Gericht, einen Streik einzuschränken?
Rudkowski: Das Recht auf Streik ist im Grundgesetz verbrieft und ein hohes Gut. Das bekommen Sie nur eingeschränkt, wenn Sie es mit höherrangigen Rechten Dritter begründen, die durch den Streik eingeschränkt werden. Neben einer Gefahr für Leben und Gesundheit können das etwa das Recht der Bahnkunden auf Bewegungsfreiheit oder die unternehmerische Freiheit sein, etwa wenn ein Betriebshof auf eine Chemielieferung über die Schiene angewiesen ist.
Eine Frage der Verhältnismäßigkeit
tagesschau.de: Aktuell haben wir ja eine Art Wellenstreik vor uns mit sehr kurzen Vorlaufzeiten. Wie werden die rechtlich bewertet?
Rudkowski: Eigentlich zeichnet sich ein Wellenstreik dadurch aus, dass er spontan ist und eben nicht angekündigt wird. Das ist beim aktuellen Bahnstreik der GDL nicht der Fall, weil es eben den 30-Stunden-Vorlauf gibt. Ohne Ankündigung könnte es für die GDL problematisch werden. Hier läge ein möglicher Grund für Gerichte zu urteilen, dass dieser Streik dann unverhältnismäßig wäre. Hier geht es eben um die betroffenen Rechte Dritter.
tagesschau.de: Und wie schauen Sie auf die 22 Stunden?
Rudkowski: Je früher die GDL ankündigt, dass etwas kommt, desto früher können die Kunden und die Bahn Ausweichmöglichkeiten planen. Und da macht ein Tag mehr Vorlauf unter Umständen schon einen Unterschied. Zum Beispiel stranden die Reisenden dann vielleicht nicht plötzlich in einer fremden Stadt. Wie die Frage nach der Vorlaufzeit vom Gericht beantwortet wird, ist für mich als Arbeitsrechtlerin sehr spannend.
tagesschau.de: Warum?
Rudkowski: Es hat bisher in Deutschland wenige Wellenstreiks gegeben. Zuletzt in den 1990er-Jahren bei Druckereimitarbeitenden. Die Drucker sind dann spontan zu Hause geblieben. Damals ging es aber vor Gericht vor allem um Fragen des Entgeltes. Wer zahlt, wenn die Druckereimitarbeitenden, die eigentlich spontan streiken wollten, doch kommen und der Arbeitgeber aber schon vorgesorgt und für den Tag Ersatzpersonal eingestellt hat?
tagesschau.de: Und bei den Druckern hat sich die Frage nach der Ankündigung so nicht gestellt?
Rudkowski: Genau, während streikende Druckereimitarbeiter dafür sorgen, dass es am nächsten Morgen unter Umständen keine Tageszeitung gibt, sind die Auswirkungen im Bahnverkehr auf die betroffenen Menschen und deren Freiheiten doch wesentlich größer. Beim ÖPNV geht es dann auch um das Recht auf freie Bewegung der Einzelperson.
"Streikrecht wird auch jetzt schon eingeschränkt"
tagesschau.de: Es gibt derzeit einige Vorschläge, das Streikrecht wie in England oder Spanien so zu regeln, dass es eine gesetzlich verbriefte Notfallversorgung in Bereichen der Daseinsvorsorge gibt. Was halten Sie davon?
Rudkowski: Das halte ich für schwierig. Zwar haben wir kein Streikgesetz, wir haben Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz, die Koalitionsfreiheit. Das Streikrecht wird allerdings auch jetzt schon eingeschränkt durch die Rechte Dritter, und das sehen üblicherweise auch die Arbeitskampfparteien so. Im Krankenhaus etwa gibt es bei Streiks eine Notbesetzung, diese "Notdienstverpflichtung" wird hergeleitet aus Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz. Der Streik darf auf keinen Fall zu einer Gefahr für Leib und Leben führen. Das funktioniert auch.
Auch in anderen Bereichen, etwa in der Wasserversorgung, einigen sich bei Streiks die Arbeitskampfparteien auf solche Arrangements. Manchmal kommt es wegen des Umfangs zu juristischen Auseinandersetzungen. Die werden dann aber auch geklärt. Bei der Bahn ist es derzeit aber ohnehin eine andere Lage.
tagesschau.de: Warum?
Rudkowski: Bei der Bahn darf man nicht vergessen, dass es hier noch die Eisenbahner bei der EVG gibt und auch beamtete Bahner, die nicht streiken dürfen. In dem Sinne wurde bisher auch in der Rechtsprechung argumentiert, dass es eben keine Verpflichtung zur einem Notdienst gibt. Hier gibt es stets einen Ersatzfahrplan schon aufgrund der nicht- oder andersorganisierten Arbeitnehmer und der Beamten.
tagesschau.de: Dennoch werden Stimmen aus der Politik laut, die Einschränkungen im Streikrecht fordern. Was sagen Sie dazu?
Rudkowski: Es gab immer wieder solche Debatten, die sind nie Wirklichkeit geworden. Und ich bezweifle auch, dass wir so eine Reform brauchen. Denn aktuell geht es um eine einzelne Gruppe, genauer gesagt eine Gewerkschaft, die GDL, im Konflikt mit der Bahn. Da muss man vermutlich eher nach einer Lösung für die Bahn suchen, sich etwa fragen, ob es in bestimmten Bereichen der Bahn doch wieder Beamte braucht, die eben nicht streiken dürfen. Aber das ist eine politische, keine juristische Frage.
Das Interview führte Alina Leimbach, ARD-Finanzredaktion.