Interview

Fünf Jahre Arbeitsmarktreform "Hartz IV ist schiefgegangen"

Stand: 15.12.2009 07:05 Uhr

Fünf Jahre nach der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung eine "verhalten positive Hartz-IV-Bilanz" gezogen. In der Tendenz würden die angestrebten Ziele der Reform erreicht. So sei die Langzeitarbeitslosigkeit zurückgegangen. Allerdings gelinge der Ausstieg aus Hartz IV zu selten, bemängelt das Institut.

Der Arbeitsmarkt-Experte Claus Schäfer von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zeigt sich skeptischer. Im Interview mit tagesschau.de sagt er: "Arbeitssuchende werden in prekäre Jobs gedrückt."

tagesschau.de: Seit knapp fünf Jahren ist das Hartz-IV-Gesetz in Kraft, mit dem die rot-grüne Bundesregierung Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt hat. Ist Hartz IV ein Erfolg?

Claus Schäfer: Nein, das lässt sich beim besten Willen nicht sagen. Hartz IV hat im Gegenteil zusätzliche Probleme erzeugt. Zunächst bei den unmittelbar Betroffenen, den Hartz IV-Empfängern, die vor der Reform Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe bezogen haben.

Nach einem Gutachten der Hans-Böckler-Stiftung müssen 60 Prozent von ihnen wegen der Hartz IV-Reform mit weniger Einkommen leben, das ist das erste Minuszeichen. Aber auch in Wirtschaft und Gesellschaft hat es zum Beispiel wegen der Beeinträchtigung der Binnennachfrage oder gestiegener Kinderarmut neue Probleme gegeben.

Claus Schäfer
Zur Person

Claus Schäfer ist Volkswirt und Abteilungsleiter des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften (WSI) in Düsseldorf, das zur Hans-Böckler-Stiftung gehört. Zu seinen Schwerpunkten zählen die Einkommens- und Vermögensverteilung, die steuerliche Umverteilung sowie die Verteilung von Lebenschancen.

"Wer vorgesorgt hat, wird doppelt belastet"

tagesschau.de: Wie wirkt sich das konkret aus?

Schäfer: Im früheren Sozialhilfesystem gab es zum Beispiel die Möglichkeit, in besonderen Lebenssituationen, etwa wenn ein Kühlschrank kaputtgegangen war, einen neuen zu beantragen. Das müssen die Menschen jetzt aus dem normalen Hartz IV-Satz ansparen. Hinzu kommt: Bevor sie Hartz IV-Leistungen erhalten, müssen sie noch in Kauf nehmen, dass ihr angespartes Vermögen - bis auf das sogenannte Schonvermögen - aufgezehrt wird.

Das heißt: Die Leute, die unter Umständen jahrelang vorgesorgt, beziehungsweise Konsumverzicht betrieben haben, werden durch die Arbeitslosigkeit doppelt belastet, sobald sie ins Hartz-IV-System absteigen, weil sie den größten Teil ihrer Ersparnis vorher auflösen müssen.

tagesschau.de: Hat Hartz IV somit zu mehr Armut in Deutschland geführt?

Schäfer: Da die Mehrheit der Menschen, die früher im Arbeitslosen- und Sozialhilfesystem waren, Einkommen verloren hat, hat Hartz IV eindeutig die Armut erhöht. Und selbst wenn Langzeitarbeitslose wieder einen Job finden, können sie durch die "Hintertür" erneut bei Hartz IV landen. Nämlich dann, wenn es sich um einen prekären und schlecht bezahlten Job handelt, von dem eine Familie nicht leben kann, sodass "aufstockendes" Hartz IV fällig wird. Durch den Zwang von Hartz IV, so gut wie jede Arbeit anzunehmen, werden die Arbeitsuchenden häufig in diese Jobs hineingedrückt.

"Arbeitsverdienst ist oft unangemessen niedrig"

tagesschau.de: Ist es nicht besser, durch diese Jobs hinzuzuverdienen, anstatt komplett von Hartz IV zu leben?

Schäfer: Ein Problem besteht darin, dass der Arbeitsverdienst oft unangemessen niedrig ist. Ein weiteres Problem ist, dass beispielsweise ein arbeitsloser Ingenieur oder Facharbeiter einen Verkäufer-Job akzeptieren muss, was seinem Selbstwertgefühl zusetzen kann. Er wird durch dieses System quasi mehrfach "bestraft", materiell und sozialpsychologisch.

tagesschau.de: Hat Ihrer Ansicht nach überhaupt jemand von den Veränderungen profitiert?

Schäfer: Nur eine Minderheit hat durch die Reformen gewonnen, zum Beispiel durch teilweise bessere Vermittlung in den Arbeitsagenturen - die aber insgesamt immer noch zu wünschen übrig lässt. Schließlich wird von den Hartz-Empfängern sehr viel gefordert - gefördert werden sie jedoch viel zu wenig. Die Arbeitsagenturen bezeichnen sie zwar als Kunden, behandeln sie allerdings nicht als solche.

"Qualifizierungsmaßnahmen wurden zusammengestrichen"

tagesschau.de: Woran merken Sie das?

Schäfer: Den Menschen werden viel zu wenige Möglichkeiten geboten, sich zu qualifizieren. Viele Langzeitarbeitslose haben keine Berufsausbildung, manche nicht einmal eine abgeschlossene Schulausbildung - und solche mit Migrationshintergrund haben oft zusätzliche Defizite. Aber die Qualifizierungsmaßnahmen wurden drastisch zusammengestrichen.

Stattdessen werden den Leuten prekäre Jobs vermittelt - Ein-Euro-Jobs, Mini-Jobs oder Leiharbeit - aus denen sie häufig nicht mehr in eine normale Arbeit kommen. Die Brückenfunktion dieser Jobs, die einen Übergang in feste, nicht-prekäre und angemessen bezahlte Beschäftigungsverhältnisse schaffen sollte, hat es in den meisten Fällen nicht gegeben.

tagesschau.de: Wie hätte eine Alternative zu Hartz IV aussehen müssen?

Schäfer: Das ist die große Frage. Es gab damals vor fünf Jahren keinen zwingenden Grund, das System der Arbeitslosenhilfe abzuschaffen. Die Sozialhilfe hätte zwar verbessert werden müssen: Auch damals waren die Regelsätze sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern zu niedrig. Und es fehlte - unter anderem angesichts von Bildungsdefiziten - eine angemessene Betreuung und Förderung. Hartz IV als Experiment der rot-grünen Bundesregierung sollte zwar diese Mängel teilweise beheben, ist aber schiefgegangen.

Das Interview führte Jörn Unsöld für tagesschau.de.

Hintergrund "Hartz IV" Kinder Pauschale

Die "Grundsicherung für Arbeitsuchende" - besser bekannt als Hartz IV - sieht als Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts derzeit 359 Euro monatlich vor; bei Inkrafttreten des Gesetzes Anfang 2005 waren es noch 345 Euro. Damit sollen etwa Ernährung, Kleidung, Körperpflege und Hausrat abgedeckt werden - Miete dagegen wird extra bezahlt. Dieser Betrag soll den Bedarf eines Alleinstehenden abdecken. Leben zwei erwachsene Partner zusammen, stehen ihnen - weil Zusammenleben angeblich Kosten spart - jeweils 90 Prozent von dieser Regelleistung zu, also 323 Euro. Bei Kindern und Jugendlichen sind die Leistungen gestaffelt, und zwar ausgehend vom Regelsatz: Unter sechs Jahren gibt es 60 Prozent (215 Euro), unter 14 Jahren 70 Prozent (251 Euro), darüber 80 Prozent (287 Euro). Das Kindergeld wird damit verrechnet, für Schüler gibt es allerdings noch 100 Euro jährlich extra. Anfangs gab es nur zwei Stufen: 60 Prozent zwischen 0 und 14 Jahren, 80 Prozent darüber.