Standort Deutschland Woran die Wirtschaft wirklich krankt
Die deutsche Wirtschaft entwickelt sich schlechter als im Rest der EU. Dennoch will Microsoft hierzulande Milliarden investieren. Ist der Standort Deutschland besser als sein Ruf?
Welche Probleme hat der Standort Deutschland? Auf diese Frage bekommt die ARD-Sendung Plusminus eine überraschende Antwort vom Chefvolkswirt des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Klaus Günter Deutsch. Er erklärt, Deutschland sei insbesondere im Bereich der Hochtechnologie mittlerweile wieder ein sehr interessanter Standort, das sehe man in vielen Bereichen, in denen hier große Unternehmen aus aller Welt investieren. Dabei scheint auch die Klage über hohe Energiepreise in Deutschland mittlerweile überholt.
Tatsächlich baut Microsoft seine neuen energiehungrigen Rechenzentren - vollkommen ohne staatliche Subventionen - ausgerechnet im rheinischen Kohlerevier, wo in wenigen Jahren die letzten Kohlekraftwerke stillgelegt werden, und nicht in Belgien oder Frankreich, wo die Atomkraft für vermeintlich niedrigere Stromkosten sorgt.
Europäische Stromkosten im globalen Vergleich hoch
Im europäischen Vergleich der realen Stromerzeugungskosten sind diese nur in fünf europäischen Ländern aktuell niedriger als in Deutschland. Frankreich hat seit Jahresbeginn nur noch einen Preisvorteil von 0,1 Cent. Im atomfreundlichen Belgien ist Strom sogar 0,2 Cent teurer als hierzulande. In 21 anderen EU Staaten liegen die Preise oft sogar deutlich höher: in der Kohle-Hochburg Polen ganze 1,6 Cent pro Kilowattstunde.
Auch der BDI bestätigt, die durch den russischen Angriffskrieg ausgelöste Energiepreiskrise sei weitgehend überstanden. Allerdings bleibt Europa insgesamt laut Deutsch für energieintensive Produktion ein schwieriger Standort: "Es ist im Vergleich zu den Vereinigten Staaten und zur Volksrepublik China immer noch vergleichsweise teuer, und das führt dazu, dass vor allem energieintensive Unternehmen für künftige Investitionen immer häufiger in die Vereinigten Staaten schauen" - auch, weil man erwarten könne, dass die Energieversorgung dort langfristig deutlich preiswerter bleibt.
Wettbewerb der Subventionen
Doch die USA locken nicht nur mit billigerem Strom. Präsident Joe Biden bietet aktuell Investoren, die in zukunftsträchtige, klimafreundliche Projekte investieren, massive Steuernachlässe und nimmt dafür steigende Staatsverschuldung in Kauf. Volkswagen, der Solarproduzent Meyer Burger und viele andere europäische Unternehmen investieren nun lieber dort als in Deutschland.
Vor einem Jahr noch hatte die Bundesregierung den Chip-Produzenten Intel mit massiven Subventionen gelockt. Mittlerweile ist dieser Weg versperrt. Nach einer Klage der Union verbot das Bundesverfassungsgericht eine Umwidmung ungenutzter Mittel des Corona-Fonds, die FDP beharrt auf Einhaltung der Schuldenbremse, die Koalition unter Kanzler Olaf Scholz muss ihre Pläne zur Industrieförderung massiv reduzieren.
So hat Deutschland unter den zehn größten Industrienationen der Erde die niedrigste Staatsverschuldung, weniger als die Volksrepublik China, kaum halb so viel wie die USA, kann aber - anders als Biden - kaum noch Investitionen mit Steuergeldern locken.
Bremsende Bürokratie
Viele Ökonomen halten die Subvention von Industrieansiedlungen ohnehin für wenig hilfreich, und viele Unternehmer sehen auch dringendere Probleme: Die mittelständische Hamburger Firma "HOBUM Oleochemicals" erzeugt überwiegend aus nachwachsenden Rohstoffen Spezialchemikalien, benötigt dafür viel Prozesswärme. Hier gibt es konkrete Pläne, demnächst von Erdgas auf Wasserstoff umzusteigen. Die Leitungen dafür werden aktuell geplant.
Aber in der Krise musste die Firma erst einmal neue Brenner anschaffen, die bei Ausfall der Gasversorgung zur Not mit Öl befeuert werden können. Inhaber Arnold Mergell berichtet, diese Brenner seien bundesweit hundertfach im Einsatz und vom TÜV zugelassen - trotzdem habe man ein komplettes Genehmigungsverfahren durchlaufen müssen und erst abgeschlossen, als die Gaskrise längst überwunden war.
Gleichzeitig muss Mergell jedes chemische Produkt nach den Regeln europäischer REACH-Gesetzgebung zertifizieren, die kontinuierlich verschärft werde. Jedes Zertifikat benötigt lange externe Prüfungen und kostet Hunderttausende Euro. Zuletzt habe er deshalb fünf Produkte, die nur in kleinen Mengen hergestellt wurden, aus dem Programm genommen. Das sei besonders bitter, wenn solche Stoffe im Rest der Welt weiter produziert werden dürfen - und in Produkten verarbeitet werden, die danach problemlos nach Europa importiert werden können.
Mehr Bürokratie durch Lieferkettengesetz
Das Lieferkettengesetz soll verhindern, dass unter unmenschlichen Bedingungen hergestellte Vorprodukte verwendet werden. Es gilt offiziell nur für Großunternehmen mit mehr als 3.000 Beschäftigten. Aber auch Mergells kleine Firma ist Teil von Lieferketten. Seine großen Kunden schickten ihm nun umfangreiche Fragebogen. So muss er wiederum nun von Lieferanten, deren Öl er verarbeitet, den Nachweis verlangen, dass die Pflanze, aus der es stammt, moralisch unbedenklich produziert wurde.
Die FDP hat im Februar zunächst verhindert, dass die EU eine solche Lieferkettenverordnung verabschiedet. Dem deutschen Unternehmer hilft das nicht. Die EU wollte mit geringen Veränderungen ein Gesetz übernehmen, das in Deutschland von der Regierung Merkel eingeführt wurde - und hierzulande nun weiterhin gilt. Am Freitag beschloss eine Mehrheit der EU-Staaten das abgeschwächte europäische Lieferkettengesetz.
Besserung in Sicht?
Sowohl EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als auch die Bundesregierung von Kanzler Scholz hatten versprochen, den Dschungel bremsender Vorschriften gründlich zu lichten. Passiert ist diesbezüglich bislang wenig.
Der BDI-Chefvolkswirt schaut trotzdem überraschend gelassen in die Zukunft der deutschen Wirtschaft. Die sei besonders exportorientiert, daher von den Schocks der Weltwirtschaft und sinkendem Welthandel besonders getroffen, erklärt Deutsch. Sie brauche darum einfach etwas länger, um aus der konjunkturellen Schwächephase wieder herauszukommen. Aber klar sei auch: bessere Rahmenbedingungen würden dabei helfen.