20 Jahre EU-Osterweiterung "Für uns ein Glücksfall"
Die Sorge war vor 20 Jahren groß: Was würde passieren, wenn der deutsche Arbeitsmarkt plötzlich für Millionen Menschen geöffnet wird? Heute fällt die Bilanz der EU-Osterweiterung positiv aus.
An einem Mittwoch schloss Evelin Fazekas in Ungarn ihre Ausbildung zur Restaurantmanagerin ab, am Samstag derselben Woche sei sie bereits in Deutschland gewesen. Ihr Traum von einem neuen besseren Leben beginnt im Jahr 2012. Denn obwohl Ungarn bereits zum 1. Mai 2004 Mitglied der europäischen Union wurde, dauerte es noch weitere sieben Jahre, bis Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den EU-Beitrittsländern hierzulande uneingeschränkt arbeiten konnten.
Sorge vor Dumpinglöhnen und Verdrängung
Gleich zehn Länder auf einen Schlag wurden vor zwanzig Jahren Mitglied der EU. Nach langen Verhandlungen und einer mehrjährigen Vorbereitungsphase kamen Polen, Tschechien, Ungarn, Estland, Lettland, Litauen, Slowakei, Slowenien, Malta und Zypern hinzu. Die Europäische Union wuchs von 15 auf 25 Mitgliedsstaaten - für viele ein Grund zur Sorge vor Dumpinglöhnen und der Verdrängung deutscher Arbeitskräfte. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit wurde hierzulande deshalb erst einmal eingeschränkt.
Inzwischen arbeitet Evelin Fazekas seit mehreren Jahren für den schwäbischen Mittelständler Ziehl-Abegg. In Künzelsau produziert das Unternehmen Ventilatoren für die Industrie. Fazekas setzt hier Tag um Tag über 10.000 Einzelteile auf Leiterplatten, die später in den Ventilatoren verbaut werden. Konzentriert und gewissenhaft müsse sie arbeiten.
Ein Job, der für viele nicht mehr attraktiv genug sei. "Ohne die Arbeitskräfte aus dem Ausland würde hier gar nichts mehr gehen", sagt Marc Wucherer, Vorstandvorsitzender von Ziehl-Abegg. Manche arbeiten als Ingenieure, die meisten in einfachen Funktionen. Gerade die Bestückung der Leiterplatten übernehmen mittlerweile fast ausschließlich Mitarbeiterinnen aus den ost- und mitteleuropäischen Beitrittsländern. Anders seien die Stellen längst nicht mehr zu besetzen.
Am Band trotz Abitur und Ausbildung
Evelin Fazekas ist eigentlich überqualifiziert für den Job, sie hat Abitur, eine Ausbildung. Trotzdem mache sie ihre Arbeit gerne. Auch, weil sie hier immer noch ein Vielfaches mehr verdient als in der Gastronomie in ihrer ungarischen Heimat. "Mein Gehalt dort wäre bei 700 bis 900 Euro maximum. Mit zwölf Stunden Arbeit pro Tag und auch Samstag und Sonntag." Wie sie sind viele junge Ungarinnen und Ungarn damals in andere europäische Länder gezogen. "Von meiner Klasse mindestens die Hälfte."
Inzwischen arbeiten rund 820.000 Menschen aus den Ländern der EU-Osterweiterung in Deutschland. Eine Studie des Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e.V. (ifo) hat Zahlen der Bundesagentur für Arbeit ausgewertet und kommt zu dem Schluss: Die düsteren Prognosen haben sich nicht bewahrheitet. Der Zuzug von Beschäftigten aus den EU-Beitrittsländern führte nicht zu einer Verdrängung von deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.
Vielmehr wurden auf dem Arbeitsmarkt wichtige Lücken geschlossen. Personen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern sind vor allem in Bereichen tätig, die "aufgrund niedriger Löhne oder ungünstiger Arbeitsbedingungen für heimische Arbeitskräfte wenig attraktiv sind", heißt es in der Studie.
Neue Märkte, weniger Barrieren
Für Ziehl-Abegg sei die Osterweiterung der EU ein Glücksfall gewesen, nicht nur mit Blick auf neue Mitarbeitende, sagt der Vorstandsvorsitzende Wucherer. "Wir haben auch neue Märkte erschlossen, die Barrieren wurden runtergefahren. Deswegen konnten wir uns verbreitern."
Länder wie Ungarn oder Polen haben stark vom Zugang zum EU-Binnenmarkt - dem größten weltweit - profitiert. In den Ländern siedelten sich ausländische Unternehmen an, der Lebensstandard stieg. "Unsere Produkte waren auf einmal auch dort gefragter." Die Ventilatoren von Ziehl-Abegg sind in Aufzügen und Fabrikhallen, aber auch in Wohnanlagen oder Kühlräumen der Lebensmittelindustrie verbaut.
Nach dem Aufschwung droht Stagnation
Der gestiegene Lebensstandard sowie die in einigen Branchen deutlich gestiegenen Löhne in den osteuropäischen EU-Staaten, führten aber auch dazu, dass Deutschland als Auswanderungsland nicht mehr so attraktiv ist wie einst, sagt Kathrin Sommerfeld, Wissenschaftlerin am Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim.
"Wir haben kaum noch zusätzliche Beschäftigte, die nach Deutschland kommen, sondern es gibt diesen 'Turn over', dass die Menschen herkommen, für ein paar Jahre hierbleiben, die Hälfte nur für ein bis vier Jahre, und dann wieder zurückgehen. Da ist die Befürchtung aus ökonomischer Sicht, dass es da nicht mehr viel zusätzliches Potential gibt. Das wird jetzt eher stagnieren in den nächsten Jahren."
Evelin Fazekas möchte dennoch in Deutschland bleiben, seit zwei Jahren hat sie nun auch die deutsche Staatsbürgerschaft.