Nachbarland sammelt Daten Wie lang hält Nordkoreas Wirtschaft durch?
Deutschland hat geschafft, wovon Nord- und Südkorea weit entfernt sind: die Wiedervereinigung. Ein Katalysator war damals die marode DDR-Wirtschaft. In Südkorea beobachten Experten deshalb genau, wie es ökonomisch um den Nachbarn steht.
"Es kann jeden Tag passieren, und dann muss man vorbereitet sein. Ein Zusammenbruch Nordkoreas." Das sagte kürzlich Südkoreas Präsident Yoon Suk-yeol. Einer, der sich ganz konkret mit einem solchen Szenario aus wirtschaftlicher Sicht befasst, ist Cho Taehyoung. Er leitet seit 2017 ein kleines Team bei der Bank of Korea. Ein freundlicher Mann, der viel lächelt und nicht alles verraten darf.
Tägliches Puzzlespiel
Mit Blick auf die deutsche Wiedervereinigung 1990 sagt der Wirtschaftswissenschaftler, während er an seinem Zitronentee nippt: "Wir werden in Zukunft auch ein Land sein, und auf diesen Tag müssen wir uns vorbereiten."
Chos Arbeit ist, so wie er sie beschreibt, noch schwerer als die eines Trüffelschweins. Denn er muss nicht nur viel suchen und finden, sondern Informationen aus dem kommunistischen Nachbarland auch noch einschätzen, gewichten - und auch manchmal wieder verwerfen.
Ein wichtiger Baustein sind Statistiken zum Im- und Export mit China, dem wichtigsten Handelspartner des nordkoreanischen Regimes. "Diese Daten werden regelmäßig von China veröffentlicht." Und daran könne man erkennen, wie viel Nordkorea in die Volksrepublik exportiert hat.
Flüchtlinge geben Aufschluss
Eine weitere, aufschlussreiche Quelle sind nordkoreanische Geflüchtete. Rund 33.000 leben im Süden. Besonders interessant für die Zentralbank sind diejenigen, die als Journalisten arbeiten, für ihre Arbeit auf frühere Kontakte in der Heimat zurückgreifen und dann zum Beispiel Daten über Reis- oder Benzinpreise veröffentlichen.
Weder Cho noch einer seiner sechs Mitarbeiter befragen selbst nordkoreanische Geflüchtete, greifen allerdings für weitere Einschätzungen auf Berichte der Nationalen Universität von Seoul zurück, die jährlich Daten aus Umfragen ermittelt. Dabei geht vor allem um Alltagsfragen, erklärt Cho:
Wie hoch war ihr Verdienst? Wie haben sie den Verdienst erzielt? Was verbrauchen sie? Wofür bezahlen sie? Was verbrauchen sie für Dinge? Und wie hoch sind die Mietkosten und dergleichen? Das sind also sehr unterschiedliche Daten.
Satellitenbilder und Recherchereisen
All diese Informationen sind interessant, um die aktuelle Situation in der Diktatur besser einschätzen zu können. "Kürzlich haben wir sehr interessante Satellitendaten erhalten", so Cho. Dadurch, dass ein Satellit rund um die Uhr Bilder liefert, können die Wissenschaftler zum Beispiel sehen, wie viel und wo nachts Licht im Norden brennt. Sie vergleichen dies mit dem eigenen Land und versuchen so, Rückschlüsse auf die wirtschaftliche Lage zu ziehen.
Oder sie legen Satellitenbilder aus verschiedenen Zeitreihen nebeneinander und schauen, ob und was sich verändert hat. Was Cho nicht sagt, aber bekannt ist: Satellitendaten dienen natürlich auch dazu, Aufschluss über Arbeiten an der Atomanlage zu erhalten oder zu sehen, ob beispielsweise eine Militärparade geplant ist.
Zwar steht Cho nicht mit dem Fernglas an der Grenze und guckt, ob aus einem Schornstein Rauch aufsteigt - gelegentliche Exkursionen gehören jedoch zu seinem Job: "Manchmal reise ich in die Nähe der chinesischen Grenze, die Grenze zwischen China und Nordkorea. Und dann gibt es dort Leute, von denen wir hören, was in Nordkorea vor sich geht."
Kombinationsgabe und gesundes Misstrauen
Während der Corona-Pandemie waren die nordkoreanische Wirtschaft und damit die Menschen in einer sehr schlechten Situation, da ist sich Cho sicher. Als Beleg dienen ihm gestiegene Preise für Grundnahrungsmittel wie Reis oder Mais. Die Getreideproduktion sei zwar zurückgegangen, aber nicht so stark wie beispielsweise in den 1990er-Jahren während der großen Hungersnot in Nordkorea.
Alle gesammelten Informationen, das räumt er ein, müssten immer noch einmal in Frage gestellt werden. Geflüchtete können übertreiben, die Unwahrheit sagen, Exportdaten nicht korrekt sein. Das gilt vor allem auch bei jenen spärlichen Daten, die Nordkorea globalen Organisationen zukommen lässt - wie zum Beispiel der Weltgesundheitsorganisation während der Pandemie.
"Wir müssen sehr vorsichtig sein und immer hinterfragen: Kann das sein?" Viele Daten werden miteinander verknüpft, der Job in Chos Team erfordert Kombinationsgabe.
Hackerangriffe und ausländische Arbeitskräfte
"Manche Fragen", sagt Cho ehrlich, "können wir auch nicht beantworten." Zum Beispiel, wie viel das Regime durch Hackerangriffe und an Kryptobörsen verdient hat.
Ob und wie viel Nordkorea mit ausländischen Arbeitskräften verdient, ist eine ebenso offene Frage. Schon längst ist deren Einsatz zwar verboten, aber, so Cho: "Wenn diese korrupten Leute etwas machen können, dann tun sie es." Immer wieder hätten Geflüchtete von Restaurants in China oder Fabrikarbeitern berichtet.
"Und wissen Sie, dann gibt es doch diese Diktatoren in Afrika, die Bronzestatuen wollen." Die Nordkoreaner hätten diese vielen verrückten Fähigkeiten, um solche Statuen zu bauen, sagt Cho lachend.
Immer weniger Flüchtlinge
Insgesamt ist die Arbeit für Cho und sein Team schwieriger geworden. Zum einen, weil es nur spärliche Daten gibt und immer weniger Menschen die Flucht aus der Diktatur gelingt. 2021 waren es laut südkoreanischem Weißbuch für Wiedervereinigung gerade mal 63 Menschen - und damit fast 1000 weniger als 2019.
Aber auch im Hinblick auf seine Mission, auf eine Wiedervereinigung vorbereitet zu sein, ist die Realität immer herausfordernder. Die Einkommensschere zwischen Nord- und Südkorea ist riesig. Zuletzt, so Cho Taehyoung, lag das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in Südkorea pro Jahr bei rund 35.000 Dollar, im Nachbarland hingegen nur bei etwa 1000 Dollar. In Südkorea leben doppelt so viele Menschen wie im Norden.
Mit Respekt und der Hilfe der USA
Der Unterschied zwischen Nord- und Südkorea sei also viel größer, als er es 1990 zwischen Ost- und Westdeutschland war; deshalb müsse eine Wiedervereinigung auf der koreanischen Halbinsel anders ablaufen als in der Bundesrepublik, meint der Wissenschaftler: "Wir sind der Meinung, dass eine schrittweise Integration eher notwendig ist als eine sehr schnelle, radikale."
Man müsse den Menschen im Norden für diesen Fall Respekt entgegenbringen. Aber ob das die Politik dann auch so sehe, sei natürlich fraglich, gibt der Finanzexperte zu bedenken.
Damit es nach Jahren des Stillstands beim Thema Abrüstung überhaupt wieder vorangehen könnte, sollten die USA aus Sicht des koreanischen Zentralbankmitarbeiters aktiver werden und nicht nur abwarten. Nur wenn man der Stimme Nordkoreas mehr Gehör schenke, so Cho, werde sich etwas ändern.