Ukrainische Flugabwehr schießt über Kiew russische Kampfdrohnen ab
reportage

Arbeitsalltag in der Ukraine Wenn der Krieg den Menschen ihren Schlaf raubt

Stand: 13.10.2024 10:12 Uhr

Nacht für Nacht greift Russland die Ukraine mit Flugkörpern an. Seit Kriegsbeginn können viele Menschen kaum schlafen. Das hat Folgen für die Gesundheit - und auch für Unternehmen.

Valentyna Masnitschenko ist das, was man sich unter einer ambitionierten und aufstrebenden Jungunternehmerin vorstellt. Sie betreibt und besitzt in Kiew ein Tätowierstudio und beschäftigt mehrere Tattoo-Meister. Ihr Tag ist durchgetaktet, das Geschäft läuft, Soldaten bekommen zehn Prozent Preisnachlass auf ihre Tattoos. Ein großer Teil der Kunden sind Militärs. Stolz zeigt sie den großen Raum, in dem zwei Kunden gleichzeitig behandelt werden.

Eigentlich stammt sie von der Krim, die seit mehr als zehn Jahren von Russland besetzt wird. Sie kam alleine nach Kiew, ist alleinerziehend und hat das alles alleine aufgebaut. In der vergangenen Nacht dauerte der Angriff Stunden. Valentyna sieht blendend aus. Dabei hat sie nur ein bis zwei Stunden geschlafen. "Gott sei Dank gibt es Schminke für mein Gesicht. Ich bin so müde. Ich will eigentlich nur schlafen. Eigentlich denke ich immer nur Kaffee, Kaffee, Kaffee."

Es ist fast jede Nacht so: Kurz nachdem um Mitternacht herum die Luftalarm-App ertönt, hört man, wie die Flugabwehr Drohnen über Kiew abschießt. Eine Mischung aus Knattern, Donnern und Maschinengewehren. Man sieht selten etwas. Sind es Raketen, dann ist das deutlich lautere Donnern in der ganzen Stadt zu hören. Nächtlicher Alltag in der Ukraine.

Schäden für die Produktivität?

Im Studio von Valentyna Masnitschenko ist es verhältnismäßig ruhig. Eine konzentrierte Stille? Valentyna hat dafür eine einleuchtende Erklärung. 80 Prozent der Kunden seien Soldaten. "Die kommen und schlafen." Sie seien völlig erschöpft und nutzten die Zeit des Front-Urlaubs, oft ein bis zwei Tage, um dann ins Tattoo-Studio zu kommen. Sie nennen ihre Wünsche - oft sind es nationalistische Motive - und schlafen bald danach ein, das erlebt sie täglich. Valentyna räumt flott das Studio auf, bereitet die Tätowierpritschen für die nächsten Kunden vor, während in einem anderen Bereich des Raumes ein Foto-Shooting stattfindet. 

Es gibt keine Zahlen oder Statistiken dazu, wie Müdigkeit durch schlaflose Nächte die Produktivität der Ukraine beeinflusst. Ein sichtbarer Schaden könnte beim Tätowieren entstehen, wenn der Meister daneben sticht. Doch der Meister Viktor, der für Valentyna arbeitet, lächelt nur. Ja, er sei müde, aber er konzentriere sich eben sehr, damit ihm keine Fehler unterlaufen, die er hinterher nicht mehr korrigieren könnte. "Das ist unser Leben." 

Ein Mann sticht einer Frau ein Tattoo in den Oberarm in einem Tattoo-Studio in Kiew.

Im Tattoo-Studio von Valentyna Masnitschenko ruhen sich viele Kunden einfach nur aus.

Müdigkeit, Erschöpfung und Gereiztheit

Es gibt auch andere Methoden, um im Alltag trotz Dauerstress zu funktionieren und Geld zu verdienen. Auf dem Weg von der Arbeit nach Hause treffen wir Hlib Wyschlinskyj an der Metro-Station Osokorky, ein Wirtschaftswissenschaftler vom "Centre for Economic Strategy". Er trägt Anzug und Aktentasche und hat einen langen Arbeitstag hinter sich. Die letzte Nacht war laut und unruhig. Doch er habe gut geschlafen. "Ich mache das Fenster zu, die Klimaanlage an und dann höre ich nichts." Das funktioniere bestens. Schließlich drehe sich in seinem Leben alles um die Arbeit, denn seine Frau habe das Land verlassen und er lebe zur Zeit alleine. Warum schirmt er sich nachts so ab? Die Antwort kommt prompt: "Damit ich am nächsten Tag arbeiten kann." 

Der Alltag seit Beginn des russischen Angriffskriegs bedeutet für einen erheblichen Teil der Kiewer Müdigkeit, Erschöpfung und Gereiztheit. Vor allem für Eltern von Kindern. Bei der ersten spontanen Antwort räumen das viele ein. Auch wenn man dann im Gespräch mit der westlichen Journalistin im zweiten Satz gleich hinzufügt: Aber wir kriegen das schon hin. Und tatsächlich sind Cafés geöffnet, die Bahnen fahren und Handwerker arbeiten. Ein Ziel dieser zahlreichen Drohnennächte scheint es zu sein, die ukrainische Zivilbevölkerung zu zermürben. Diese russische Taktik hinterlässt Spuren. 

Menschen an einem U-Bahnsteig in Kiew

Alltag in der Kiewer U-Bahn: Die Stationen dienen seit Ausbruch des Kriegs auch immer wieder als Luftschutzbunker.

Eltern und Kinder trifft es besonders

An der selben Metro-Station Osokorky auf der linken Seite des Flussufers wartet Olena auf den Bus. Sie hält die Hand ihrer Tochter Ella, ein zierliches Mädchen im Grundschulalter, blass und schüchtern. Mutter und Tochter sind jetzt, gegen 21 Uhr, erkennbar müde. Sie kehren gerade vom Termin beim Kinderpsychologen zurück. Die Nächte seien schwer, sagt die Mutter. "Die Kinder schlafen nicht. Und dann ist es schwer, am nächsten Morgen aufzustehen und zur Schule zu gehen."

Nachts zögen sie in den Flur um, wo es sicherer sei: "Ich hoffe dann, dass es uns nicht trifft, dass die Trümmer nicht reinfliegen." Es kommt vor, dass der Alarm beginne, wieder aufhöre und wieder beginne. "Wenn man dann mehrmals in der Nacht in den Schutzraum geht, kann man am nächsten Tag gar nicht arbeiten." Um im Alltag zu funktionieren, geht die Mutter mit ihren beiden Kindern immer seltener in den Schutzraum. 

Olena, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, arbeitet als Musiklehrerin. Es falle ihr aber schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren - sie sei von den schlaflosen Angriffsnächten übermüdet. Ella ist fast immer still. "Ella geht in die 2. Klasse. Sie spricht kaum. Es ist alles schwierig für sie und dann noch der Beschuss." Die Mutter blickt zu ihrer Tochter: Auch ihre Kinder könnten sich nicht auf die Schule konzentrieren. "Sie sind müde von diesem Leben."

Ständig verfolgen, was im Himmel los ist

Sehr spät am Abend bereitet sich Valentyna, die Besitzerin des Tattoo-Studios, auf die Nacht vor. Sie legt eine Decke für ihre Tochter Anja und eine für sich auf den Boden des begehbaren Kleiderschranks. Hauptsache, eine Wand trennt sie von den Fenstern im Wohnzimmer. Anja ist gerade sechs und spricht selbstverständlich über die Abläufe des Krieges. "Wenn die Raketen fliegen und die Flugabwehr aktiv ist, dann trägt Mama mich in den Schrank. Wenn das passiert, habe ich Angst." Doch schon bald wird Anja auf dem Boden des Schrankes einschlafen.

Valentyna dagegen hört genau auf jedes Geräusch, sucht ständig nach aktuellen Informationen auf Telegram, ob sich Drohnen oder Raketen gerade auf die Stadt zubewegen. Das kann bis zum Morgen gehen. Am Tag wird sie wird sich zusammenreißen. "Morgens nehme ich nach der aufregenden Nacht erstmal Beruhigungsmittel." Es folgt der Kaffee oder Tee, und dann bringt sie Anja zur Schule und fährt in ihr Tattoo-Studio. Dieser Krieg kriecht in jede Ritze des Lebens. Er ist nicht zu übersehen - und schon gar nicht zu überhören.