Forschung Wie sehr beeinflussen soziale Medien die Wahl?
Findet der entscheidende Wahlkampf in den sozialen Medien statt? Mit allen Gefahren für die Demokratie? Viel weniger, als man denkt, sagen Forschende. Sie sehen auch bei klassischen Medien ein Problem.
Um möglichst häufig gelikt, kommentiert und vor allem geteilt zu werden, verbreiten soziale Medien wie TikTok, Instagram und Facebook oft radikale, aufmerksamkeitserregende Ansichten. Und vor allem die AfD und ihre als gesichert rechtsextrem eingestufte Jugendorganisation Junge Alternative gelten als die aktivsten Parteien, vor allem bei TikTok.
Dennoch: Dass durch solche Posts die Bundestagswahl am 23. Februar entschieden und womöglich in eine radikale Richtung gelenkt werden könnte, halten Experten, die zu sozialen Medien, politischer Kommunikation und Desinformation forschen, für eher unwahrscheinlich.
Wirkung sozialer Medien wird überschätzt
Der Einfluss sozialer Medien auf die Wahlentscheidung eines Menschen sei gering, sagt etwa Judith Möller, Professorin für empirische Kommunikationsforschung an der Universität Hamburg, in einem Presse-Briefing des Science Media Center. Eine Wahlentscheidung gehe auf sehr viele verschiedene Faktoren zurück: Herkunft, Erziehung, Bildung, persönliche Erfahrungen. Wie groß genau der Einfluss sozialer Medien auf die Wahlentscheidung ist, könne man zwar noch nicht mit genauen Zahlen belegen, dazu gebe es zu wenige Daten. "Wir wissen aber, dass dieser Anteil sehr klein ist", so Möller.
Außerdem: Die Wahl werde nicht durch eine kurzfristig erfolgreiche Social-Media-Kampagne entschieden. Die Wahlen in den USA hätten dies im Fall von Kamala Harris gezeigt, ergänzt Andreas Jungherr, Professor für Politik und Digitale Transformation an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Dass man sich durch diese "sehr online orientierten Unterstützergruppen [..] so ein bisschen fehlleiten lasse", sei eine Gefahr, sagt der Wissenschaftler.
Denn, und da bestätigt er auch Judith Möller: Informationen wirkten kumulativ. Das heißt: Sie häufen sich auf. Was man über Jahre hört, das bildet Meinung. Was im Umkehrschluss allerdings auch heißt: Das gilt natürlich auch für die sozialen Medien. Wer nur lange genug dort unterwegs ist, der bildet sich auch dort immer stärker seine Meinung.
Ein Beispiel dazu, ebenfalls aus den USA, führt Philipp Müller, Medienwissenschaftler an der Universität Mannheim, an: Steve Bannon, den ultrarechten, ehemaligen Berater von Donald Trump und seinen Slogan "We’re flooding the zone". Also sinngemäß: Wir fluten einfach mal den Raum mit unserem Zeug. Das sei dann auch erfolgreich gewesen, sagt Müller.
Parteien sollten Zeit und Geld für soziale Medien investieren
Zumal die Diskussion in den sozialen Medien immer weiter nach rechts rutsche. In den sozialen Medien herrsche eine "toxische Kultur", sagt Judith Möller. "Bestimmte Gruppen ziehen sich dann zurück." Logische Folge: Die Zusammensetzung wird immer einseitiger. Da bleiben die, denen der raue Ton weniger oder nichts ausmacht.
Ohnehin bilden soziale Medien viel mehr die Meinungen der Ränder ab als die der Mitte. Auch die "großen progressiven Bewegungen" oder "Sensibilisierung für Themen wie Rassismus oder Toleranz gegenüber verschiedenen Geschlechteridentitäten" seien erst durch Social Media in diesem Ausmaß sichtbar geworden, sagt Philipp Müller. Und so sei es eben jetzt mit extrem rechten Positionen.
Parteien wie die AfD profitieren von diesem Trend. Auch, weil sie sich - anders als die etablierten Parteien - früh in den sozialen Medien engagiert haben. Der Bamberger Professor Andreas Jungherr wünscht sich daher, dass "die etablierten Kräfte in unserem Land, die für eine pluralistische Demokratie stehen", diese Medien stärker nutzten, "um die pluralistische Demokratie als solche zu unterstützen". Und nicht erst "drei Wochen vor der Wahl". Kurz vor der Wahl die sozialen Medien zu entdecken und zu sagen: "Hier bin ich, findet mich toll!" - das sei eben eine "begrenzt erfolgreiche Strategie".
Massenmedien sollten nicht jeden Post aufgreifen
Die drei Experten wenden sich aber auch an die klassischen Medien. Manche, auch zweifelhafte Posts, erführen überhaupt erst Aufmerksamkeit, weil sie von den großen Medien aufgegriffen würden. "Nicht über jedes tagesaktuelle Stöckchen springen", nennt das Philipp Müller. Das gelte vor allem für Falschinformationen, die kursieren. In einem ähnlichen Kontext sagte dazu der Leipziger Professor für Kommunikationsmanagement, Christian Hoffmann: "Nicht jede Desinformation muss berichtigt werden. Wenn Massenmedien eine Desinformation aufgreifen, um sie zu berichtigen, erhält sie dadurch oft erst eine viel größere Verbreitung, als sie es vorher hatte."
Auch die Sicht auf die Wirklichkeit werde durch die sozialen Medien verzerrt, sagt Andreas Jungherr - und zwar ins Negative. Weil Unzufriedenheit und Probleme viel öfter Thema seien. Die Lage des Landes werde dadurch schlechter wahrgenommen, als sie ist. "Social Media ist wie ein Stresstest für die Demokratie", sagt Jungherr. Bei aller Verzerrung könne man nämlich auch sagen: "Fein, die Probleme sind sichtbar geworden, jetzt können wir das auf der Hauptbühne evaluieren, und wenn es tatsächlich ein Problem ist, können wir das auch lösen."
Philipp Müller setzt darauf, dass die Gesellschaft auch lernen kann, zu unterscheiden - zwischen den verschiedenen "Diskussionsarenen", wie er es nennt. Er sei optimistisch, dass sich die Menschheit von "Social-Media-Verzerrungen, von den Überbetonungen randständiger Positionen oder Problematiken wie Hassrede" nicht komplett abbringen lasse vom Weg der Mitte.