Ein Frau hält sich den Bauch.

Neue Art von Nervenzellen entdeckt Woher Appetitlosigkeit bei Übelkeit kommt

Stand: 15.04.2024 14:27 Uhr

Bei Übelkeit vergeht dem Menschen der Appetit. Woran das liegt, haben Forschende jetzt in einer Studie herausgefunden. Dabei entdeckten sie eine neue Art von Hirnzellen.

Von Laura Strätling, SWR

Die meisten kennen diesen Moment: Man riecht etwas Schlechtes, und es wird einem übel. Und nicht nur das: Man verliert auch den Appetit. Das Phänomen Übelkeit ist zwar recht gut erforscht. Doch über die Prozesse, die dabei in unserem Gehirn ablaufen, und darüber, wie Appetitlosigkeit entsteht, ist bis jetzt wenig bekannt.

In einer neuen Studie konnten Forschende des Max-Planck-Instituts für biologische Intelligenz dieser Frage nun ein großes Stück näherkommen. Eine zentrale Rolle spielt die Amygdala, der Mandelkern. In diesem Bereich des Gehirns identifizierten die Forschenden neue Nervenzellen.

Der Mandelkern ist für die Verarbeitung von Emotionen zuständig. Die hier entdeckten Nervenzellen werden durch übelkeitsauslösende Mittel und Verstimmungen des Magen-Darm-Trakts aktiviert. Ihre Signale blockieren wiederum das Hungergefühl in unserem Körper, was zu Appetitlosigkeit führt.

Ein Schutzmechanismus des Gehirns

Zunächst klingt dieser Vorgang erst mal ganz logisch: Unangenehmer Geruch oder Geschmack löst Übelkeit aus. Der Körper erzwingt jetzt eine Essenspause, damit der Mensch seine Ressourcen auf das unmittelbare Problem der Übelkeit lenken kann. "Wir deuten es als eine Art Schutzmechanismus", sagt Rüdiger Klein. Er ist Direktor am Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz und Mitverfasser der Studie.

Für das Experiment erzeugten die Forschenden bei Mäusen künstlich Übelkeit. Mithilfe von Fluoreszenzmarkierungen und Elektroden wird dann beobachtet, wie die verschiedenen Neuronen-Gruppen in der zentralen Amygdala reagieren.

Was ist Fluoreszenzmarkierung?
Fluoreszenzmarkierung, auch Fluoreszenzfärbung genannt, ist eine Methode zur Aufspürung von Zellen. Dabei werden Fluoreszenzfarbstoffe chemisch an spezifisch wirkende Antikörper gebunden, um den Ort und die Reaktion der nachzuweisenden Zellen, in diesem Fall der Nervenzellen, zu ermitteln.


Warum die Erkenntnisse, die im Mäuse-Experiment gesammelt wurden, auf den Mensch übertragbar sind, erklärt Klein wie folgt: "Die Gehirne von Säugetieren unterscheiden sich untereinander nur sehr gering. Hierdurch können die gewonnenen Informationen problemlos auf den Menschen übertragen werden."

Neuronen blockieren sogar die stärkste Lust auf Essen

Zusätzlich wurde das Verhalten der Mäuse beobachtet. Hierfür verglich das Forschungsteam Mäuse, die zuvor gefastet und Mäuse, die ganz normal gegessen hatten. Fraßen sie bei Übelkeit weniger, obwohl sie vorher gefastet hatten?

Es zeigte sich ein überraschendes Ergebnis: Neben den bereits bekannten Sättigungsneuronen gibt es eine noch nicht entdeckte Art von Hirnzellen in der Amygdala. "Die sogenannten Dlk1-Neuronen werden zum Beispiel durch Übelkeit oder Bauchweh aktiviert", berichtet Klein. Das Übelkeits-Signal bekommen die Neuronen von anderen Hirnregionen, die unter anderem für die Verarbeitung von Ekel oder unangenehmen Gerüchen zuständig sind.

Passiert das, werden Hirnregionen gehemmt, die wichtig für die Nahrungsaufnahme sind. Damit blockieren sie sogar den stärksten Appetit. Selbst die Mäuse, die im Experiment zuvor gefastet hatten, hörten auf zu essen und sogar zu trinken.

Das Neue an dieser Beobachtung: Man vermutete zwar, dass es bislang unentdeckte Zellen in der Amygdala gibt, die eine übelkeitsbedingte Appetitlosigkeit verursachen. Allerdings wurden bisher noch keine Neuronen gefunden, die ihre Axone tatsächlich auch in andere Gehirnregionen aussenden. Die sogenannten Axone sind Fortsätze von Nervenzellen, die Signale an ihre Umgebung weiterleiten.

Das aktive Ausschalten der Dlk1-Neuronen führte dazu, dass die Versuchstiere sogar aßen, wenn ihnen eigentlich noch übel war. Der Mechanismus der Appetitlosigkeit wurde also ausgehebelt. Nach Einschätzung der Forschenden spricht das dafür, dass es im Gehirn von Maus und Mensch einen speziellen Schaltkreis für den übelkeitsbedingten Appetitverlust gibt.

Neuronen können menschliche Reaktionen auf Übelkeit erklären

Und es geht noch weiter: Durch ihre ungewöhnlich breite Vernetzung können die Folgen der Dlk1-Aktivierung über die bloße Appetitlosigkeit hinausgehen. So können auch andere typisch menschliche Reaktionen auf Übelkeit erklären: Wie zum Beispiel, dass wir uns, wenn uns schlecht ist, auch vor unseren Mitmenschen zurückziehen.

Die Beobachtung der Mäuse ergab, dass sie bei Übelkeit weniger als sonst Kontakt zu ihren Artgenossen suchten. Dieses Verhalten konnte ebenfalls auf die Wirkung der Neuronen zurückgeführt werden. Nicht beeinflusst wurde Neugier-getriebenes Verhalten wie die Erkundung neuer Objekte.

Adipositas und Magersucht auf der Spur

"Die aktuellen Erkenntnisse können auch für die Beforschung von Essstörungen gewinnbringend sein", erklärt Rüdiger Klein. Stimme nämlich die Balance zwischen den appetit-hemmenden Dlk1-Neurone und appetit-fördernden Zellen nicht überein, könne das weitreichende Folgen haben: Gefühle, die wir sonst als unangenehm empfinden, wirken sich plötzlich belohnend auf das Gehirn aus. Wie zum Beispiel ein leichtes Hungergefühl. Die meisten Menschen würden das als unangenehm bezeichnen.

Betroffene Personen verspüren jedoch gerne Hungergefühle und nähmen deshalb zu wenig Nahrung auf. Im schlimmsten Fall könne dieses Ungleichgewicht zur Magersucht führen. "In Zukunft könnten weitere Untersuchungen also Einblicke in die Entstehung von Adipositas, Magersucht oder anderen Essstörungen geben”, sagt Rüdiger Klein. Auch die Entwicklung neuer therapeutischer Strategien für diese belastenden Krankheiten seien denkbar.