Umstrittene Angebote Baby-Apps - Wissenschaft oder Hype?
Orientierung oder Druck? Apps zur Babyentwicklung sind bei Eltern beliebt - wie zum Beispiel "Oje, ich wachse”. Die Theorie dahinter ist umstritten.
Ein Kind verändert das eigene Leben - aus einem Paar werden Eltern, die sich plötzlich rund um die Uhr um einen kleinen Menschen kümmern. Vieles machen Eltern intuitiv richtig und dennoch gibt es ein großes Bedürfnis nach Orientierung. Immer häufiger schauen Eltern auch auf Apps, um zum Beispiel Entwicklungsschritte der eigenen Kinder besser einordnen zu können. Mit weltweit über acht Millionen Downloads und rund einer Million in Deutschland gehört die App "Oje, ich wachse" zu den bekanntesten - ist unter Fachleuten aber umstritten.
Weit verbreitete Theorie der Entwicklungssprünge
Mit der App sollen Eltern die Entwicklungsschritte in den ersten 20 Lebensmonaten genau beobachten können, sagt die Mutter Eva-Maria Vogt. "Die App erklärt, ob das Kind gerade einen Entwicklungsschub durchmacht." Wann ist das Baby anhänglicher, wann wieder deutlich entspannter? Genau diese Fragen beantwortet die App mit einem Entwicklungskalender: "Wir können sogar vorhersagen, wann diese Sprünge beginnen werden", heißt es in einem Erklärvideo innerhalb der App.
Abhängig vom Geburtstermin werden dann ruhigere und weniger ruhige Phasen angegeben - individuell zugeschnitten auf das eigene Kind. Die Theorie dahinter: Mitten in einem Entwicklungssprung lernt das Baby neue Fähigkeiten, ist aber auch häufiger anhänglich oder quengelig. Die App spricht dann von Phasen und Entwicklungssprüngen.
Theorie entsteht durch Beobachtungen von Menschenaffen
"Das mit diesen Zeitfenstern und dass ich mich da irgendwie hätte nach richten können, das hat sich überhaupt nicht bestätigt", sagt Eva-Maria Vogt. Sie hat die App für alle ihre drei Kinder genutzt. In den öffentlich einsehbaren Online-Bewertungen der App fällt das Urteil gemischt aus: Viele Eltern sehen in der App eine sinnvolle Unterstützung, andere sind enttäuscht. Doch was steckt hinter der App, woher stammt die Entwicklungstheorie?
Die Theorie der Entwicklungssprünge haben der niederländische Verhaltensbiologe Frans Plooij und die Anthropologin Hetty van de Rijt in den 1970ern aufgestellt - bei der Beobachtung von Menschenaffen. Dabei stellten sie Phasen fest, in denen die Affenbabys mal anhänglicher sind und mal mit neuen Fähigkeiten ausgestattet wieder unabhängiger werden. Ihre Theorie: Das Nervensystem sortiert sich in bestimmten Phasen neu.
Nur wenige Babys werden für die Theorie beobachtet
Die Hypothese untersuchten die beiden Wissenschaftler dann auch beim Menschen, indem 15 Mütter ihr Kind 20 Monate lang beobachteten. Außerdem untersuchte das Forscherteam das Verhalten von zwei weiteren Kindern selbst. Insgesamt 17 Kinder bilden also die Basis für die aufgestellte Entwicklungstheorie.
Eine dünne Datenbasis, sagt die Entwicklungspsychologin Mareike Altgassen von der Universität Mainz: "Aus heutiger wissenschaftlicher Sicht kann man sagen, dass die Theorie eher umstritten ist." Inzwischen gibt es mehrere kleinere Studien, die zumindest teilweise zu ähnlichen Ergebnissen kommen, worauf auch der App-Anbieter hinweist. Allerdings wurden bei den Untersuchungen ebenfalls nur wenige Kinder beobachtet. Der App-Anbieter sieht in den kleinen Studien eine Bestätigung, Kritiker halten die Studien für wenig aussagekräftig. Der App-Anbieter teilt dem SWR auf Anfrage mit: "Kritik und Herausforderung sind an der Tagesordnung, wenn man Theorien teilt." Man begrüße den Dialog.
Die App "Oje, ich wachse" basiert auf der Theorie eines zehnstufigen Entwicklungssystems, das ein Kind nach und nach durchläuft. Diese Vorstellung gilt unter Fachleuten heute aber als veraltet, sagt Entwicklungspsychologin Mareike Altgassen. "Wir gehen heute eher von einer kontinuierlichen Entwicklung aus."
Fachleute sehen Gefahr der Verunsicherung
Solche Apps bieten Eltern Orientierung, können aber auch verunsichern, so Altgassen. "Das Kind ist eben auch kein Uhrwerk, und jede Entwicklung findet zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt statt", sagt Altgassen. Eltern könnten verunsichert sein, wenn ihr Kind nicht exakt reinfällt.
Auch der Mainzer Kinderarzt Stephan Buchner kritisiert solche Apps. "Wir haben leider immer mehr stark verunsicherte Eltern." Buchner ist Sprecher des rheinland-pfälzischen Landesverbands der Kinder- und Jugendärzt*innen: "Ich glaube, solche Apps werden noch mehr Eltern verunsichern, denn kaum ein Kind kann all diese Anforderungen erfüllen." Eltern verspürten dann Druck, wenn das eigene Kind die Entwicklungsschritte nicht zum richtigen Zeitpunkt mache.
App-Anbieter kündigt neue Studien an
Auf Anfrage kündigt der App-Anbieter neue Untersuchungen an. "Wir befinden uns in fortgeschrittenen Gesprächen mit renommierten niederländischen Experten." In den kommenden Monaten würden weitere Details zu den geplanten Studien bekannt geben werden. Man wolle herausfinden, was Eltern Sicherheit gibt und was auch verunsichern kann.
Mit einer App die Gehirnentwicklung überwachen?
Nicht nur die Entwicklung beobachten, sondern Entwicklungsprobleme frühzeitig erkennen - damit wirbt zum Beispiel die App BrainProtect. Eltern sollen die Gehirnentwicklung ihres Babys überwachen können, heißt es auf der Webseite. Wie soll das funktionieren? "Das zusätzliche Wissen kann sicher auch Sorgen triggern", sagt der Gynäkologe Arne Jensen, der die App BrainProtecet anbietet: "Umgekehrt hat man die Chance gegenzusteuern, bevor es 'ernst' wird", sagt der Gynäkologe. Er sieht in der App eine große Chance, um als Eltern selbst Abweichungen in der Gehirnentwicklung möglichst früh zu erkennen.
Seine App wirbt damit, Auffälligkeiten direkt nach der Geburt zu erkennen, um das Kind gegebenenfalls bestmöglich zu fördern. Grundlage der App sind Daten von mehr als 5.000 Babys aus den 1980er Jahren. Babys mit einem auffälligen Verhältnis von Kopfumfang zu Körpergewicht waren bei der späteren Entwicklung teilweise auffällig - so ein Ergebnis. Aber müssten solche Entwicklungsabweichungen nicht im Rahmen der normalen Untersuchungen kurz nach der Geburt auffallen? "Schön wär’s", sagt Jensen. Die Daten würden zwar erhoben, aber nicht so ausgewertet, wie es die App tut.
"Ich finde es schwer einzuschätzen, was jetzt hier wirklich der Nutzen ist und was der Mehrwert der App, jetzt über die normalen Untersuchungen hinaus", sagt die Entwicklungspsychologin Altgassen. Sie verweist auf die Untersuchungen beim Gynäkologen und Kinderarzt. "Ich glaube nicht, dass durch so eine App zusätzliche Informationen entstehen", sagt der Kinderarzt Buchner. Im Rahmen der normalen U-Untersuchungen würden Entwicklungsrückschritte rechtzeitig erkannt.
App wirbt mit Vorhersage des IQ im Vorschulalter
"Messen Sie den IQ Ihres Babys", schreibt der Anbieter unter anderem auf seiner Webseite und spricht sogar von einer Vorhersage des Intelligenzquotienten für das Vorschulalter. Konkret berechnet die App Wahrscheinlichkeitswerte, spricht von Risikoscores. "Sie bekommen eine Wahrscheinlichkeitsrechnung. Nur das kann das System leisten", sagt Arne Jensen. "Sollte das Kind suboptimal abschneiden in dieser Kategorie, dann kann ich ganz gezielt fördern." Eine Ampel zeigt je nach Ergebnis die Farbe grün, gelb oder rot. Bei Auffälligkeiten rät die App, das Kind gezielt zu fördern. Die App kostet einmalig bis zu 149 Euro.
Die dreifache Mutter Eva-Maria Vogt würde heute selbst kein Geld für neue Apps ausgeben. Sie hat den Eindruck, dass solche Apps den Druck unter Eltern häufig erhöhen, "gerade unter Akademikerinnen und Akademikern".